Russische Einheiten rücken offenbar näher an Kiew heran – Militärexperte spricht von möglicher „Zermürbungsschlacht“

Düsseldorf Nach Angaben der ukrainischen Armee dauern die Angriffe russischer Truppen im Land weiter an. Rund um die Hauptstadt Kiew gebe es russische Offensiven an der nördlichen Stadtgrenze bei Sasymja und in südlicher Richtung bei Wyschenky, hieß es in einem in der Nacht zu Samstag auf Facebook veröffentlichten Bericht des ukrainischen Generalstabs. Diese Offensiven seien in einigen Bereichen teils erfolgreich.

Um die nordostukrainische Stadt Tschernihiw aus südwestlicher Richtung zu blockieren, versuchten russische Einheiten zudem die jeweils rund 15 Kilometer entfernten Orte Mychajlo-Kozjubinske und Schestowytsja einzunehmen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte am Freitag gesagt, dass in Tschernihiw eine wichtige Wasserleitung durch Beschuss beschädigt worden sei. In der Folge sei die Großstadt mit knapp 280.000 Einwohnern ohne Wasserversorgung.

In dem Bericht heißt es weiter, strategische Bomber der russischen Luftwaffe setzten Marschflugkörper in den Städten Luzk, Dnipro und Iwano-Frankiwsk ein. Luzk und Iwano-Frankiwsk befinden sich nördlich und südlich der Stadt Lwiw unweit der polnischen Grenze. In der Nacht zum Freitag hatte Russland seine Angriffe auf den Westen der Ukraine ausgeweitet. Die Angaben ließen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen.

Neu aufgenommene Satellitenbilder zeigen, dass russische Militäreinheiten weiter näher an Kiew heranrücken und aktiv auf Wohngebiete feuern. Das in den USA ansässige Unternehmen Maxar Technologies meldet, dass etliche Häuser und Gebäude Feuer gefangen hätten. Große Schäden seien in der Stadt Moschun sichtbar, die nordwestlich von Kiew liegt. Reuters kann die Angaben derzeit nicht verifizieren.

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Ukraine-Konflikt

Freiwillige Helfer evakuieren einen älteren Bewohner auf einer Trage in Irpin nordwestlich von Kiew.

(Foto: dpa)

„Das wird eine sehr lange Zermürbungsschlacht werden“

Der russische Großangriff auf Kiew ist nach Einschätzung eines Militärforschers der Londoner Denkfabrik Chatham House nur noch eine Frage von Stunden oder Tagen. Die russischen Truppen, die tagelang in einer mehr als 60 Kilometer langen Kolonne vor der ukrainischen Hauptstadt feststeckten, hätten sich nun neu formiert, sagte Mathieu Boulègue.

„Das wird eine sehr lange Zermürbungsschlacht werden“, erklärte er. „Das wird eine grauenhaft verlustreiche Schlacht und eine Belagerung, wie wir sie in der modernen Geschichte selten gesehen haben.“

Der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte teilte mit, dass die russische Armee in einigen Teilen der Ukraine ihre Truppen umgruppiert und verlagert hat. „Sie führten Maßnahmen zur Wiederherstellung der Kampffähigkeit und zur Umgruppierung von Truppen durch“, heißt es in einer Erklärung. Den Beschuss einiger Grenzsiedlungen zwischen Belarus und der Ukraine sehe man außerdem als Provokation Russlands: „Bei den Bombardierungen auf belarussischem Territorium wurde niemand verletzt. Die heimtückische Provokation wurde begangen, um die Streitkräfte der Republik Belarus in die Militäroperation gegen die Ukraine an der Seite Russlands zu verwickeln.“

Aus US-Verteidigungskreisen in Washington verlautete hingegen, die russischen Umgruppierungen der Kolonne vor Kiew seien eher zum besseren Schutz der Fahrzeuge erfolgt, ein taktisches Vorrücken dieser Kolonne auf die Hauptstadt sei nicht beobachtet worden. Von Nordosten allerdings seien andere Einheiten auf 20 bis 30 Kilometer an Kiews Zentrum herangerückt.

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Dem britischen Verteidigungsministerium zufolge griffen russische Luft- und Raketentruppen in den vergangenen 24 Stunden unterdessen die westukrainischen Städte Lutsk und Iwano-Frankiwsk an. Wie das Ministerium über Twitter mitteilt, sollen russische Kampfflugzeuge dafür sogenannte ungelenkte Munition eingesetzt haben.

Der Leiter der staatlichen ukrainischen Verwaltung in der von Russland unterstützten Separatistenregion Luhansk, Sergej Gaidai, erklärte, dass die russische Armee 70 Prozent der Region kontrolliert. „Die Lage ist schwierig, überall wird geschossen“, sagt er und fügt hinzu, dass zivile Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten kontinuierlich angegriffen werden.

Russische Truppen sollen nach ukrainischen Angaben zudem eine Krebsklinik in der südukrainischen Stadt Mykolajiw beschossen haben. Hunderte Patienten hätten sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Krankenhaus aufgehalten, sagte Chefarzt Maxim Besnosenko. Getötet worden sei niemand. Durch den Beschuss sei das Gebäude beschädigt worden. Fenster zerbarsten. Die ukrainische Regierung und der Westen warfen Russland erst diese Wochen den Beschuss einer Geburtsklinik in der Hafenstadt Mariupol vor. Dabei kamen demnach drei Menschen ums Leben, darunter ein Kind.

Evakuierungen in Ukraine laufen nur schleppend

Die Evakuierung von Menschen aus belagerten und umkämpften Städten in der Ukraine soll am Samstag weitergehen. Für das Gebiet Sumy im Nordosten des Landes seien sechs Fluchtkorridore geplant, teilte der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, in der Nacht zu Samstag auf Telegram mit. Demnach sollen Zivilisten aus den Städten Sumy, Trostjanets, Lebedin, Konotop, Krasnopillja und Velika Pysarivka in die zentralukrainische Stadt Poltawa gebracht werden.

Insgesamt laufen die Evakuierungen schleppend. Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer sitzen in von russischen Truppen eingekesselten oder umkämpften Städten fest. Kiew und Moskau werfen einander Verletzungen der für die Fluchtkorridore notwendigen Feuerpausen vor.

Die Evakuierung von Zivilisten aus umkämpften und belagerten Städten der Ukraine läuft weiter nur schleppend. Nach Angaben der ukrainischen Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk wurden am Freitag rund 3800 Menschen in Sicherheit gebracht, während Hunderttausende Menschen weiterhin in von russischen Truppen eingekesselten Städten wie Mariupol festsitzen.

Aus den nordwestlich von Kiew gelegenen Vororten Butscha, Hostomel, Worsel und dem Dorf Kosarowytschi nördlich der Hauptstadt hätten Einwohner über humanitäre Korridoren fliehen können, sagte Wereschtschuk. Keine Evakuierungen seien in Isjum, Mariupol und Wolnowacha zustande gekommen. Auch die russische Seite berichtete von erneuten Schwierigkeiten bei der Evakuierung von Zivilisten.

Wereschtschuk erklärte, die Beschießung von Mariupol durch russische Truppen habe die Evakuierung von Zivilisten am Freitag erneut verhindert. Ukrainischen Angaben nach sollen dort 1582 Zivilisten seit Ausbruch der Kämpfe gestorben sein. Auch in der Region Kiew hätten russische Soldaten Busse mit Zivilisten nicht passieren lassen.

Wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski mitteilt, konnten am Freitag 7144 Zivilisten über humanitäre Korridore aus insgesamt vier Städten fliehen. Die Zahl sei deutlich niedriger als in den beiden Tagen davor. Selenski erhebt in seiner Ansprache erneut schwere Vorwürfe gegen Russland, da es sich weigere, Menschen aus der belagerten Stadt Mariupol herauszulassen. Man werde am Samstag erneut versuchen, Lebensmittel und Medikamente nach Mariupol zu liefern, so der Präsident.

Mariupol erlebt nach Angaben des Bürgermeisterbüros wegen der anhaltenden Belagerung durch russische Truppen eine humanitäre Katastrophe. Die Toten in der Hafenstadt würden noch nicht einmal begraben, hieß es in einer Stellungnahme vom Freitag. Das Bürgermeisterbüro rief die russischen Truppen zudem auf, die Belagerung zu stoppen. Die Stadt sei von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medizin abgeschnitten.

Sanktionen gegen russische Helfer Nordkoreas

Die US-Regierung verhängte wegen angeblicher Unterstützung von Nordkoreas Waffen- und Raketenprogramm Sanktionen gegen zwei Unternehmer und drei Firmen aus Russland. Sie hätten einem bereits mit Sanktionen belegten Nordkoreaner in Russland geholfen, Teile für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und Raketen anzukaufen, teilte das Finanzministerium am Freitag mit. Nordkoreas andauernde Tests ballistischer Raketen verstießen gegen internationales Recht und stellten eine „große Bedrohung der globalen Sicherheit“ dar, betonte das Ministerium.

Infolge der Sanktionen wird jeglicher möglicher Besitz der betroffenen Personen und Firmen in den USA eingefroren. US-Bürgern und Firmen ist es verboten, mit ihnen Geschäfte einzugehen oder sie finanziell zu unterstützen. Wer weiter mit den zwei Russen oder den drei Unternehmen Geschäfte macht, könnte daraufhin selbst mit Sanktionen belegt werden, wie das Finanzministerium warnte. Ausländische Banken, die ihnen wissentlich Transaktionen ermöglichen, könnten demnach vom US-Finanzsystem ausgeschlossen werden.

Die Sanktionen haben für die Betroffenen mitunter weitreichende Konsequenzen – auch falls diese gar kein Vermögen oder Geschäfte in den USA haben. Sie erschweren betroffenen Personen und Firmen viele internationale Geschäfte, weil westliche Banken und Unternehmen nicht riskieren wollen, gegen US-Sanktionen zu verstoßen.

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Deutsche Bank und Commerzbank

Deutsche Bank und Commerzbank stellen Neugeschäft in Russland ein

Nach heftiger Kritik fährt nun auch die Deutsche Bank wegen des Ukraine-Kriegs ihr Russland-Geschäft herunter. Die Deutsche Bank habe ihr Engagement und ihre Präsenz in Russland seit 2014 substanziell verkleinert, teilt das Geldhaus am Freitagabend mit. „Wie einige unserer internationalen Wettbewerber sind wir dabei, unser verbleibendes Geschäft in Übereinstimmung mit den gesetzlichen und regulatorischen Vorgaben herunterzufahren“. Gleichzeitig helfe das Finanzinstitut seinen bestehenden nichtrussischen, internationalen Kunden dabei, ihren Geschäftsbetrieb im Land zu verringern. „Wir machen in Russland kein Neugeschäft mehr“, fügte die Bank hinzu. Die Commerzbank teilte kurz darauf ebenfalls mit, ihr Neugeschäft in Russland zu stoppen. „Wir haben das Neugeschäft in Russland eingestellt, nur bestehende Transaktionen wickeln wir noch ab“, teilte eine Sprecherin des Geldhauses mit.

>> Lesen Sie dazu: Deutsche Bank fährt ihr Russland-Geschäft herunter

Die Deutsche Bank war vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs wegen ihres Verbleibens in Russland in die Kritik geraten. Der amerikanische Investor Bill Browder, der sich seit Jahren für die Aufdeckung von Korruption in Russland einsetzt, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, das Verbleiben der Deutschen Bank in Russland stehe im Widerspruch zur internationalen Geschäftswelt und werde zu Gegenreaktionen, Ansehensverlusten und geschäftlichen Belastungen im Westen führen.

Die Deutsche Bank hatte ihr Engagement in Russland zuletzt als sehr begrenzt bezeichnet. Das Institut habe die Risiken unter Kontrolle, hatte Finanzchef James von Moltke am Donnertag gesagt. Das Geldhaus bezifferte das Brutto-Kreditengagement in Bezug auf Russland mit 1,4 Milliarden Euro. Dazu kommen laut einer Präsentation der Bank zusätzliche Risiken im Volumen von 1,5 Milliarden Euro, die aber zu einem großen Teil durch Exportgarantien abgedeckt seien.

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„Es droht die schlimmste Versorgungskrise seit 70 Jahren“

Speditionen und Transportunternehmen warnen angesichts stark gestiegener Benzinpreise vor drastischen Engpässen. „Es droht die schlimmste Versorgungskrise seit 70 Jahren. Das bedeutet zum Teil leere Supermarkt-Regale“, sagte der Chef des Bundesverband Güterverkehr und Logistik Dirk Engelhardt der „Bild”-Zeitung. Deutschland steuere auf eine Situation wie in Großbritannien nach dem Brexit zu. Grund sei, dass immer mehr Speditionen die hohen Kraftstoffkosten nicht mehr schultern könnten. Der BGL-Chef forderte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf, das Problem anzugehen und mit der Branche über Entlastungen zu sprechen. „Wenn Robert Habeck jetzt nicht handelt, droht Deutschland ein großer Lieferengpass.“ Zuletzt habe er Habeck Anfang der Woche einen Brief geschrieben, doch bislang erneut keine Antwort erhalten.

>> Lesen Sie dazu: Die Energiebranche fürchtet einen Gaslieferstopp

Den dritten Tag in Folge gab es derweil in Albanien Proteste gegen Preissteigerungen, die die Regierung auf Russlands Krieg gegen die Ukraine zurückführt. Am Freitag machten Hunderte Demonstranten vor dem Büro von Ministerpräsident Edi Rama friedlich ihrem Unmut Luft, ehe sie zum zentralen Skanderbeg-Platz zogen. Dort veranstalteten viele Sitzblockaden. Die Polizei hielt Demonstranten davon ab, Hauptstraßen im Zentrum Tiranas zu blockieren.

In mindestens sechs anderen Städten gelang es Demonstranten indes, kurzzeitig Straßen zu blockieren. Mancherorts kam es zu Handgemengen mit der Polizei, die viele Menschen festnahm. Nachdem die Spritpreise vergangene Woche um 50 Prozent gestiegen waren, verhängte die Regierung von Rama Preiskontrollen und rief die Bevölkerung auf, weniger Auto zu fahren.

In den USA sagte Finanzministerin Janet Yellen sei die Wirtschaft zwar stark, jedoch würden die gegen Russland verhängten Sanktionen Auswirkungen haben. Auch die Inflation stelle ein Problem dar. Die Ministerin erklärte außerdem, dass eine straffere Geldpolitik zur Bekämpfung der Inflation eine Rezession verursachen könnte. Dennoch habe sie Vertrauen in die Fähigkeit der Federal Reserve Bank, dies auszugleichen.

Mehr zum Ukrainekrieg:

Eine direkte militärische Konfrontation in der Ukraine zwischen dem US-Militär und den russischen Streitkräften muss nach Ansicht von Präsident Joe Biden verhindert werden, damit es nicht zu einem „dritten Weltkrieg“ kommt. Das US-Militär und die Nato-Partner werden „jeden Zentimeter“ des Bündnisgebiets geeint und „mit voller Macht“ verteidigen, schrieb Biden am Freitag auf Twitter. „Aber wir werden in der Ukraine keinen Krieg mit Russland führen. Eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland ist der dritte Weltkrieg – und etwas, das zu verhindern, wir uns bemühen müssen“, schrieb der Demokrat. Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied.

Bei einem Auftritt vor Parteifreunden im US-Bundesstaat Pennsylvania hatte sich der Demokrat Biden am Freitag auch zu der Debatte um die mögliche Übergabe von Kampfflugzeugen an die Ukraine geäußert. Es dürfe keine Situation geben, in der die USA Flugzeuge oder Panzer mit amerikanischer Besatzung in die Ukraine schickten, sagte Biden. „Das muss man verstehen, da darf man sich nichts vormachen, egal was alle sagen – das heißt dann dritter Weltkrieg“, sagte der Präsident.

Mehr: Die EU stellt die Weichen für eine Verteidigungsunion – doch der Weg dahin ist steinig

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