Präsident Ulrich Hocker im Interview

Düsseldorf Zum Interview lädt Ulrich Hocker in sein Büro in der Düsseldorfer Flughafen-City ein. Von hier beobachtet und kritisiert er das Treiben an der Börse, wie zuletzt die Benennung von Oliver Blume als Doppel-CEO von Porsche und Volkswagen. Von hier kontrolliert er auch die Geschäfte der familieneigenen Industrie-Beteiligungs-Gesellschaft (IBG) mit zuletzt mehr als 300 Millionen Euro Umsatz in Schweißtechnik und Bauchemie.

Hocker entstammt einer Kölner Industriellen- und Bankerfamilie, lebt aber seit Jahren in Düsseldorf – denn hier hat auch die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, kurz DSW, ihren Sitz. Er leitete die mit mehr als 30.000 Mitgliedern größte deutsche Aktionärsvertretung viele Jahre als Hauptgeschäftsführer, seit 2012 ist er deren Präsident im Ehrenamt.

Im Gespräch berichtet er, warum und wie er es schafft, die Gesellschafter einer Familienholding ebenso „bei Laune und der Stange zu halten“ wie die Aktionäre einer börsennotierten Gesellschaft. Zudem spricht er darüber, was er von der Regierung in dieser Krise erwartet und was er in seiner Partei, der FDP, vermisst: einen Otto Graf Lambsdorff: „Ich wünschte, die Partei hätte in der derzeitigen Lage so einen erfahrenen Politiker in der Führungsmannschaft.“

Zur Lage an der Börse sagt er: „Es gibt nicht mehr Skandale, aber die Skandale sind umfassender, teurer.“ Zudem erklärt er, warum sich auch die DSW künftig genauer erklären und etwa die Mandate auf der Website personalisiert auflisten will: „Wir wollen uns ja nicht dem Vorwurf aussetzen, nicht transparent zu sein.“

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Sie sind Familienunternehmer in dritter Generation und kontrollieren seit fast vier Jahrzehnten börsennotierte Unternehmen. Wie passt das zusammen?
Die Eigentümer bestehen aus vier Familienstämmen mit inzwischen insgesamt rund 80 Gesellschaftern. Die bei Laune und der Stange zu halten ist eine ähnlich anspruchsvolle Aufgabe wie bei einer börsennotierten Gesellschaft die Aktionäre. Ich habe das früh erkannt und bin direkt nach meinem Studium im Jahr 1983 zur DSW gegangen. Dort war ich viele Jahre erst Geschäftsführer, dann Hauptgeschäftsführer, nun Präsident. Ich habe bei der DSW viel gelernt.

Was denn?
Ich habe eine grundsätzliche Ausbildung – wenn Sie so wollen – in der Kontrolle von Gesellschaften erhalten. Ich war beispielsweise in den Aufsichtsräten von Telekom, Eon, Karstadt oder Brau und Brunnen. Und dieses Wissen konnte ich natürlich übertragen. Corporate Governance hatte in einer Familienholding wie der unseren früher keinen großen Stellenwert. So wurde auf Gesellschafterversammlungen vom Management einst nur der Abschluss der Holding vorgelegt.

Heute präsentiert die Geschäftsführung natürlich auch die Geschäftsberichte der maßgeblichen Firmen. Inzwischen leite ich den Gesellschafterausschuss der IBG seit mehr als 20 Jahren. Ob Anteilseigner mit Erbschein oder gekaufter Aktie – die Interessen sind ähnlich.

>> Lesen Sie hier: „Beigeschmack des goldenen Handschlags“: Aktionärsschützer kritisieren CEO-Abgänge bei Adidas und VW

Inwiefern halten Sie Ihre Verwandten bei Laune und der Stange?
Das ist kein Geheimnis und auch keine Kunst: Sie müssen jedes Jahr eine Dividende ausschütten. Wir zahlen für gewöhnlich bis zu 30 Prozent des Gewinns aus. Wenn das den Gesellschaftern zu wenig ist, biete ich an, dass wir eine Kapitalerhöhung machen können. Dann ist meist Ruhe. Reinvestieren ist ja nie so beliebt wie entnehmen.

Autobauer Porsche

„Das sehen Sie auch bei Porsche oder anderen großen börsennotierten Familienkonzernen. Die Stammaktien werden nie erhöht.“

(Foto: dpa)

Das sehen Sie auch bei Porsche oder anderen großen börsennotierten Familienkonzernen. Die Stammaktien werden nie erhöht. Braucht man Kapital, werden höchstens Vorzüge ohne Stimmrechte ausgegeben.

Hat Ihre IBG denn jedes Jahr Gewinn gemacht?
Nein, nicht jedes Jahr. Wir haben aber noch eine andere Gesellschaft, die VVG Global KG, die die Erlöse aus früheren Firmenverkäufen verwaltet. Das ist liquides Kapital, das grundsätzlich zur Absicherung dient. In geschäftlich schlechten Jahren nehmen wir aus diesem Fonds das Geld für die Dividende.

Sie müssen schon darauf achten, dass Sie immer ausschüttungsfähig sind. Sonst kippt die Stimmung schnell in einer Familienholding. Wenn die Geschäfte schlechter laufen, geht der Kapitalmarkt ja oft nach oben, weil die Börse schon an das nächste Jahr denkt. Von daher passte das bisher immer gut.

„Wir sind nicht in einer Krise, wir stecken in vielen Krisen“

Wie viel Geld ist in diesem Fonds?
Rund 30 Millionen Euro. Für dieses und nächstes Jahr erwarte ich übrigens bei der IBG einen Gewinn. Wir sind nicht mehr so positiv wie 2020/21, aber noch deutlich positiv. Unsere IBG ist sehr international orientiert und hält sich tapfer.

Stichwort: tapfer. Wie schätzen Sie die derzeitige wirtschaftliche Lage insgesamt ein? Erleben wir gerade besonders schwierige Zeiten, oder würden Sie durch Ihre jahrzehntelange Erfahrung sagen: Alles schon erlebt, alles halb so schlimm?
Es ist ein Sammelsurium an Krisen, was wir so noch nie hatten. Wir sind nicht in einer Krise, wir stecken in vielen Krisen: Finanzmarktkrise, Pandemie, Krieg in Europa, Energiekrise, Lieferkettenproblematik, gekappte Handelsbeziehungen. Von daher: Ja, es sind besonders schwierige Zeiten.

>> Lesen Sie außerdem: Energiekrise in Europa: Auf dem Weg zum deindustrialisierten Kontinent?

Wie steht die deutsche Wirtschaft in diesen „Krisen“ da? Schaffen wir das? Oder verlieren wir international an Einfluss, steigen wir ab?
Ich glaube, wir stehen durchaus vor einer Zeitenwende – politisch wie wirtschaftlich. Wir müssen unsere Rolle neu definieren, sei es als treibende politische Kraft oder mit Blick auf uns als Industrienation.

Wir stehen vor der Herausforderung, den Umgang mit nicht demokratischen Ländern zu hinterfragen, Lieferketten sicherer zu machen, Nachhaltigkeit wirklich umzusetzen – die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Aber ich bin sicher, dass wir das gemeinsam meistern werden. Ich glaube, dass Deutschland am Ende stärker dastehen wird als zuvor.

Ihre IBG hat seit 1993 eine Produktionsstätte in Russland und seit Jahrzehnten eine Vertriebsorganisation in der Ukraine. Die können Sie wahrscheinlich abschreiben, oder?
Die Produktionsstätte in Russland, rund 300 Kilometer östlich von Moskau läuft noch. Jedenfalls laut den Zahlen, die uns übermittelt werden. Wir haben ansonsten kaum Kontakt mehr. Die Finanzströme sind ja auch aufgrund der Sanktionen abgeschnitten.

Es bleibt jetzt abzuwarten, ob diese Produktionsstätte verstaatlicht wird oder nicht. Noch gehört sie uns, die 30 Leute arbeiten aber autark unter lokaler Führung. Natürlich halten wir uns strikt an die Sanktionsregeln.

Wie ist die Lage in der Ukraine?
Wir haben eine Vertriebsorganisation mit rund zehn Leuten in Kiew. Die arbeiten auch, sofern sie nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Wir Gesellschafter unterstützen die Familien dort auch finanziell.

„Wir müssen aufpassen, dass der Mittelstand nicht verarmt“

Sie sind 1950 geboren. Hätten Sie gedacht, dass Sie noch einen Krieg in Europa erleben?
Nun ja, wir haben ja durchaus auch vorher schwerwiegende militärische Konflikte gesehen, etwa auf dem Balkan. Aber dass eine Großmacht derart aus der Zeit gefallen und brutal reagiert, hätten wohl die wenigsten für möglich gehalten.

Sie sind seit 2013 Mitglied der FDP. Wie zufrieden sind Sie mit der derzeitigen Regierung? Macht Sie einen guten Krisenjob?
Man muss ja sehen, dass die Koalition als Erneuerer gestartet ist und dann direkt in einen Dauer-Krisen-Modus schalten musste. Es geht jetzt oft und bei sehr vielen Themen darum, dass nicht eine Ideallösung gefunden werden kann, sondern das kleinere Übel bestmöglich ausgestaltet wird. Wir müssen jetzt aber schon aufpassen, dass der Mittelstand wegen der steigenden Energiepreise nicht verarmt. Wie schwierig es noch werden kann, zeigt doch der Blick in den Alltag und die Situation des Einzelhandels mit leeren Geschäften. Da müssen wir mit allen Mitteln gegensteuern.

Otto Graf Lambsdorff

Der FDP-Politiker gilt als Mentor von DSW-Präsident Ulrich Hocker.

Und mit der FDP?
Otto Graf Lambsdorff war ja mein Mentor. Ich wünschte, die Partei hätte in der derzeitigen Lage so einen erfahrenen Politiker in der Führungsmannschaft. Dennoch hat die Partei aus meiner Sicht gerade finanzpolitisch einige wirklich wichtige Dinge angestoßen, wie etwa das Zukunftsfinanzierungsgesetz. Auch hoffen wir – endlich – auf die Aktienrente.

Sie kontrollieren seit fast 40 Jahren börsennotierte Konzerne. Gibt es heute mehr zu bemängeln als früher?
Ich will nicht sagen, dass wir überreguliert sind. Wir haben aber heute schon deutlich mehr Gesetze und Regeln als noch vor einigen Jahren: beispielsweise die Internationale Rechnungslegung, der Corporate Governance Kodex oder jüngst die ESG-Thematik. Das verschafft uns Aktionärsschützern natürlich deutlich mehr Angriffspunkte.

Früher glaubten wir an den ehrbaren Kaufmann. Es gab dann genügend schlechte Beispiele dafür, dass dieser Glaube allein nicht mehr trägt. Kontrolle ist besser als Glaube.

>> Lesen Sie außerdem: Risikokapitalgeber Wenger zu nachhaltigen Investments: „ESG ist Bullshit“

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Nehmen Sie die DPR, die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung. Sie wurde 2005 eingerichtet und sollte die Rechnungslegung kapitalmarktorientierter Unternehmen in Deutschland im Staatsauftrag prüfen – und das hat eigentlich gut funktioniert. Aber der politische Druck nach Wirecard war so groß, dass der DPR der Auftrag gekündigt wurde, obwohl ihr kein Fehler nachgewiesen wurde.

„Wenn es um den Schutz der Aktionäre geht, ist man als Aufsichtsrat näher dran“

Gibt es heute mehr Skandale als früher?
Es sind nicht mehr Skandale, aber die Skandale sind umfassender, teurer. Wirecard etwa. Ein globaler Wirtschaftsskandal mit Verlusten und Abschreibungen in Milliardenhöhe.

Als Aktionärsvertreter fordern Sie regelmäßig mehr Transparenz von den Führungsgremien der Konzerne ein. Im Geschäftsbericht und auch auf Ihrer Internetseite finde ich keine Angaben zu Mitgliederzahlen oder Einnahmen, keine Angabe zu Gehältern oder Mandaten der Geschäftsführung. Wie passt das zusammen?
Die DSW veröffentlicht das Zahlenwerk der DSW e.V. sowie der hundertprozentigen Tochter, der DSW Service GmbH, bisher in der Zeitschrift „Focus Money“ wiederholt zusammen mit der Einladung zur jährlichen Mitgliederversammlung. Damit sind wir weit über den Mitgliederkreis hinaus offen und auch transparent. Wir werden die Aufsichtsratsmandate künftig auch auf der Internetseite gesondert veröffentlichen. Wir wollen uns ja nicht dem Vorwurf aussetzen, nicht transparent zu sein. Vielen Dank für die Anregung.

Wirecard und der frühere CEO Dr. Markus Braun

„Es sind nicht mehr Skandale, aber die Skandale sind umfassender, teurer. Wirecard etwa.“


(Foto: imago images/argum)

Die DSW ist mit Ihnen als Präsident, Ihrem Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler oder einem Ihrer Regionalleiter in derzeit zehn Aufsichtsräten vertreten, unter anderem bei Freenet, Gelsenwasser, K+S. Ist das nicht zu viel der Nähe?
Nein, unser langjähriger Präsident und späterer Ehrenpräsident Otto Graf Lambsdorff hat mal gesagt: Im Saldo ist das positiv.

Das müssen Sie erklären.
Wenn es um den Schutz der Aktionäre geht, sind Sie natürlich als Aufsichtsrat viel näher dran und drin, als wenn sie nur Geschäftsberichte lesen und auf Hauptversammlungen Fragen stellen können. Aber: Es gibt natürlich immer Grenzbereiche. Denken Sie nur an die Deutsche Telekom mit dem Bund als Anteilseigner: Die Geschäftsentwicklung war viele Jahre nicht gut, der Börsenkurs unten.

Eine Ausschüttung sollte aber sein, um die „Volksaktionäre“ zu befriedigen. Auch ich habe dafür eingestanden. Die Zahl der von uns besetzten Aufsichtsratsposten sinkt aber leider seit Jahren leicht.

Warum?
Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Anforderungen an Aufsichtsratsmandate derart gestiegen sind, dass Mandate von einer einzelnen Person nicht mehr in einer Vielzahl gehalten werden können. Insofern ist die Zahl der potenziellen Aufsichtsratsmandate, die durch DSW-Vertreter gehalten werden können, bereits absolut eingeschränkter, als dies früher der Fall war.

Zudem stand früher deutlich mehr im Vordergrund, dass die DSW als Vertreter der freien und privaten Aktionäre in einen Aufsichtsrat eingezogen ist. Hier hat sich die Corporate-Governance-Diskussion deutlich in eine andere Richtung bewegt. Heute geht es nicht um die Rolle oder Gruppe, die man vertritt, sondern um Kompetenzen und Erfahrungen. Das ist sicher eine gute Entwicklung, und hier haben wir bei der DSW ja auch deutlich etwas zu bieten.

„Die DSW ist ein Verein, kein Konzern“

Wie kommt die DSW an ihre Mandate?
Traditionell sind wir in den Aufsichtsräten von privatisierten Staatskonzernen vertreten, weil die Regierung einen Vertreter für die Kleinaktionäre dabei haben wollte, und bei Gesellschaften mit hohem Streubesitzanteil. So war das bei der Deutschen Telekom. Oder es gibt andere Begründungen.

Welche zum Beispiel? Der Werkzeugmaschinenbauer DMG Mori ist kein privatisierter Staatskonzern, der Bergbaukonzern K + S auch nicht.
In der DMG Mori ist ja die frühere Gildemeister AG aufgegangen. Die gehörte einst anteilig der WestLB und die wiederum anteilig dem Land Nordrhein-Westfalen. Bei K + S gibt es traditionell einen hohen Streubesitzanteil.

Sie feiern bald Ihren 72. Geburtstag. Der Corporate Governance Kodex empfiehlt die Festlegung einer Altersgrenze für Aufsichtsräte. Nun sind Sie Präsident und kein Aufsichtsrat. Dennoch: Gibt es eine solche Altersgrenze bei der DSW?
Nein, bisher nicht. Die DSW ist ja auch ein Verein, kein Konzern. Für mich wird jedoch spätestens mit 75 Jahren Schluss sein.

Herr Hocker, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Faule Äpfel im Depot: DSW listet größte „Kapitalvernichter“ auf

source site-11