Österreich steckt seit Jahren fest im Sumpf der „Freunderlwirtschaft“

Wien, Berlin „Wahrscheinlich schreibt die Politik gerade die beste Werbung für unsere Serie“, ist Nicholas Ofczarek überzeugt. Der Wiener Burgschauspieler gibt in der gerade angelaufenen vierteiligen TV-Serie „Die Ibiza-Affäre“ den Privatdetektiv Julian H.

Mit der Ibiza-Affäre fing alles an: In einer Finca auf der spanischen Insel hatte der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der rechtspopulistischen FPÖ einer angeblichen russischen Oligarchin 2017 zu illegalen Parteispenden geraten. Außerdem hatte er ihr nahegelegt, Anteile der österreichischen „Kronen Zeitung“ zu kaufen und im Gegenzug vorteilhafte Berichterstattung über ihn zu bringen.

Mehrere versteckte Kameras filmten damals mit. Zwei Jahre später wurde das Video öffentlich. Die Koalition aus der österreichischen Volkspartei ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz und Straches FPÖ zerbrach nach nicht einmal zwei Jahren. Kurz trat 2019 zurück, wurde dann aber in einer neuen Regierung aus ÖVP und Grünen erneut Bundeskanzler. Doch die Ibiza-Affäre war das Anfang vom Ende seiner erneuten Kanzlerschaft.

Denn der darauf folgende Ibiza-Ausschuss im Parlament, wo es um Bestechung und Bestechlichkeit ging, legte erst offen, wie tief Politik, Medien und Wirtschaft in der Alpenrepublik inzestiös verwoben sind.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Und wer sich zurück besinnt, dem fällt auf, dass sich im Alpenland schon so oft die Auswüchse dessen gezeigt haben, was die Wiener „Freunderlwirtschaft“ nennen. Der jüngste Skandal und Sebastian Kurz, seine ÖVP und die Inseraten-Affäre sind nur eine letzte Perle in einer langen Kette von Missständen.

Korruption und Überheblichkeit durchziehen Österreichs Politik und Teile der Wirtschaft

Anfang Oktober führt die Wiener Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) Razzien im Bundeskanzleramt, in der Parteizentrale der ÖVP, im Finanzministerium und im Verlagshaus der Brüder Wolfgang und Helmuth Fellner durch. Den Fellner-Brüdern gehört unter anderem die Gratis-Massenzeitung „Österreich“. Computer, Server, Handys, Laptops, CDs, Speicherkarten, Harddiscs werden beschlagnahmt.

Heinz-Christian Strache

Strache (FPÖ) war bis zur Ibiza-Affäre Vizekanzler von Österreich.


(Foto: imago images/SEPA.Media)

Der Vorwurf: Ministerien haben der Zeitung Millionen aus der Staatskasse für Regierungsanzeigen gegeben und im Gegenzug genehme Berichterstattung und gefälschte Umfragen zugunsten des Aufsteigers Kurz eingefordert.

Gegen zehn Beschuldigte werden Ermittlungen eingeleitet – darunter Sebastian Kurz. Der Kanzler ist laut Durchsuchungsbeschluss der WKStA die zentrale Person: „Sämtliche Tathandlungen werden primär in seinem Interesse begangen.“

SMS-Konversationen zeigen, wie tief Lügen, Korruption, Überheblichkeit sowie eine Mischung aus Niedertracht und Servilität Österreichs Politik und Teile der Wirtschaft durchziehen. „Wenn die Vorwürfe stimmen, ist Ibiza im Vergleich dazu nur eine kleine Mittelmeerinsel“, sagt der Wiener Politologe Peter Filzmaier. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte nach Bekanntwerden des Ibiza-Skandals ausgerufen: „Wir sind nicht so, Österreich ist nicht so.“ Er irrte.

Österreich ist politisch ausgelaugt – Die Kontrollkraft der Opposition hat oft versagt

Österreich ist wieder da, wo Thomas Bernhard, einer der international bedeutendsten österreichischen Schriftsteller, sein Land 1988 in dem Skandalstück „Heldenplatz“ sah: „Ein unerträglicher Gestank breitet sich aus von der Hofburg (Sitz des Bundespräsidenten) und vom Ballhausplatz (Sitz von Bundeskanzler- und Präsidialamt) und vom Parlament über dieses ganze verluderte und verkommene Land.“

Der tiefe Fall des Wiener Wunderknaben Kurz, der 1986 im Arbeiterviertel Meidling geboren wurde, mit 24 Jahren erstmals Staatssekretär, im Alter von 27 Jahren Außenminister und schließlich mit nur 31 Jahren Kanzler wurde, ist die Spitze des Eisberges einer notorisch skandalträchtigen Republik.

Das Land ist politisch ausgelaugt nach mehr als vier Jahrzehnten großer Koalition aus Sozialdemokraten (SPÖ) und konservativer Volkspartei (ÖVP). Dazu kamen 13 Jahre Alleinregierung der SPÖ und vier der ÖVP, sowie wechselnde, labile Koalitionen mit den angeblich Freiheitlichen, den Rechtsauslegern der FPÖ, die knapp 13 Jahre hielten.

Alexander Van der Bellen

Der österreichische Bundespräsident hatte nach Bekanntwerden des Ibiza-Skandals ausgerufen: „Wir sind nicht so, Österreich ist nicht so.“


(Foto: imago images/SEPA.Media)

Und dies gepaart mit einem Geflecht aus Konzernen, die von der Staatsholding Österreichische Beteiligungs AG (ÖBAG) kontrolliert werden, parteipolitisch klar zugeordneten Sozialpartnern, sowie Banken, die entweder als der ÖVP (Raiffeisenbank) oder der SPÖ (Bank Austria bis zur ihrer Übernahme durch die italienische Unicredit) nahe stehend wahrgenommen werden. Kurz hat das System der Klüngelei genutzt und verstärkt, geschaffen hat er es nicht.

Das politische Duopol aus den beiden Parteien ÖVP und SPÖ setzt sich noch dominanter in den Bundesländern fort, wo es dann quasi eine Einparteiherrschaft gab: Vier von neun Bundesländern „gehörten“ seit dem Zweiten Weltkrieg immer der ÖVP, Wien der Sozialdemokratie. Auch in den übrigen blieben Machtwechsel die Ausnahme. Viele der lang gedienten Landesfürsten mussten kaum Rücksicht auf die Opposition nehmen.

Versicherungsbetrug, Schmiergelder und instrumentalisierte Banken: Das Intrigantenstadl hat Tradition

Und so wurde Österreich immer wieder von Skandalen erschüttert: 1977 versenkten der SPÖ nahestehende Kreise das Schiff „Lucona“, um Versicherungsbetrug zu begehen. Dabei kamen sechs Besatzungsmitglieder ums Leben, die Folge waren 16 Rücktritte und Verurteilungen. 2002 sollen, so ergaben mehrere Untersuchungsausschüsse, Vertreter der Regierung von Wolfgang Schüssel (ÖVP) und der FPÖ für die Bestellung des Kampfjets Eurofighter 100 Millionen Euro an Schmiergeldern kassiert haben.

Kurz ist nicht der erste politische Hoffnungsträger, der über Affären stolperte. Der 1980 aufgedeckte Skandal um Schmiergeldzahlungen beim Bau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses kostete Hannes Androsch das Amt, den designierten Nachfolger des in Österreich ähnlich einst wie in Deutschland Willy Brandt gehypten Sozialdemokraten Bruno Kreisky.

Hannes Androsch

Der 1980 aufgedeckte Skandal um Schmiergeldzahlungen beim Bau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses kostete Hannes Androsch damals das Amt.


(Foto: imago images/SEPA.Media)

Für das Debakel um die vom FPÖ-Überflieger Jörg Haider für seinen Größenwahn instrumentalisierte Hypo Alpe Adria Bank, die vor allem auf dem Balkan investierte und durch massive Bilanzfälschung auffiel, mussten die Steuerzahler gar 6 Milliarden Euro zahlen.

Die Skandale und die europäische Kritik an deren mangelnder Aufarbeitung in Österreich führten 2009 zur Gründung der auf Wirtschaftsverbrechen und Korruption spezialisierten Staatsanwaltschaft (WKStA), die nun die Kurz’sche Inseratenaffäre ans Licht brachte.

2015 wurde die Hürde für die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse gesenkt: Seither genügen die Stimmen von einem Viertel der Abgeordneten, was der Opposition mehr Spielraum gibt. Inzwischen wurde immerhin Ibiza-Mann Strache („b´soffene G´schicht“) nach seinem Zwangsausscheiden aus der Politik zu einer 15-monatigen Bewährungsstrafe wegen Bestechlichkeit verurteilt.

Verfilzte Bussigesellschaft prägt auch Wirtschaft und Medien

Für Schauspieler Ofczarek ist die Ursache für die vielen Skandale, dass Österreich ein „sehr kleines Land ist und mafiöse Strukturen dort eher funktionieren. Sonst kann ich mir das nicht erklären.“ Ein einflussreicher Wirtschaftsvertreter spricht von einer „Bussi-Gesellschaft“, in der man „sehr schnell beim Du ist und alles so verfilzt ist“.

Und der Verleger des Magazins „News“, Horst Pirker, sieht „Österreichs politisches Spitzenpersonal als verkommen“ an. Angesichts des skandalösen Deals Regierungsanzeigen gegen wohlwollende Berichterstattung schiebt er selbstkritisch hinterher: „Und Österreichs mediales Spitzenpersonal auch.“

In diesem Habitat aus Klüngeleien und Postengeschachter, der „Freunderlwirtschaft“, wuchsen zwielichtige Gestalten. Männer wie Thomas Schmid. Als wichtigster Beamter im Finanzministerium, im an extraordinären Titeln reichen Land Generalsekretär genannt, soll er für Kurz laut WKStA die „Inserate-Korruption“ organisiert haben.

Teilweise obszöne SMS von Schmids Handy, die Ermittler nach deren Löschung wiederherstellen konnten, belegen, wie er im Auftrag von Kurz gefälschte Umfragen und Jubelartikel für den Politiker platzierte. 222 Millionen Euro zahlte die öffentliche Hand voriges Jahr für Werbung und steigerte damit diese Ausgaben um nochmals 44 Millionen.

Seit 2016 ging das laut den Ermittlern so. 2017 dankt der waidwunde ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner (Kurz in einer SMS über ihn: „Arsch“) im vermeintlichen Umfragetief ab. Jungstar Kurz übernimmt.

„Geniales Investment“, nennt Schmid in einer der 300.000 sichergestellten SMS den Deal mit dem Massenblatt „Österreich“ aus dem Verlag der Fellner-Brüder. „Fellner ist ein Kapitalist. Wer zahlt, schafft an. Ich liebe das“, textet der heute 45-Jährige aus der Nähe von Kitzbühel. Als Kurz Außenminister wird, brüstet sich Schmid in einer Kurznachricht: „Ich habe Sebastians Budget um 35 Prozent erhöht.“ Und: „Kurz kann jetzt Geld scheißen.“

Die Staatsholding ÖBAG steckt mitten im unrühmlichen Geflecht

2017 lobt sich Schmid, den Kurz-Plan umgesetzt zu haben, die Staatsholding ÖBAG unter Kontrolle der ÖVP bekommen und die FPÖ weitgehend ausgebootet zu haben: „Cooler Deal für die ÖVP. Du schuldest mir was.“

So wird Schmid 2019 ÖBAG-Chef. Die Auswahlkommission soll er sich vorab mit seinen Freunden entsprechend zusammengestellt, die Ausschreibungskriterien laut den Ermittlern sich selbst auf den Leib geschrieben und dabei erfahrene ausländische Manager ausgeschlossen haben. Kurz´ Reaktion per SMS: „kriegst eh alles, was du willst.“ Und Schmid dankt servil: „Ich liebe meinen Kanzler.“

Die ÖBAG hält große Anteile am Ölkonzern OMV, an der österreichischen Post, an der Telekom Austria, an den Casinos Austria und an weiteren Firmen. Sie stellt Aufsichtsräte und somit ein Instrument zur Postenversorgung des ein oder anderen Anhängers. Fast 27 Milliarden Euro ist das Beteiligungs-Portfolio heute wert.

Nachdem durch die bekannt gewordenen Chatprotokolle Zweifel aufkamen, dass Kurz Einfluss auf die Bestellung Schmids genommen haben könnte, trat der Chef der Staatsholding im Juni zurück – und schweigt bis heute. Nach 300.000 SMS.

Die Verzahnung von österreichischer Politik und Wirtschaft reicht noch weiter: Zur Hochzeit der von der FPÖ vorgeschlagenen parteilosen damaligen Außenministerin Karin Kneissl kam Russlands Präsident Wladimir Putin. Heute sitzt Kneissl im Aufsichtsrat des staatlich kontrollierten russischen Ölkonzerns Rosneft – unter Aufsichtsratschef Gerhard Schröder.

Wladimir Putin und Karin Kneissl

Der russische Präsident war zu Gast auf der Hochzeit von Kneissl.


(Foto: imago/ITAR-TASS)

Kurz stellte Putin den ihm verbundenen Innsbrucker Unternehmer René Benko vor, Eigentümer von Galeria-Kaufhof und Anteilseigner der „Kronen Zeitung“. Mit Markus Braun, dem inzwischen inhaftierten Wirecard-Chef, traf sich Kurz regelmäßig zu wirtschaftspolitischen Gesprächen.

Politik und Wirtschaft sind in Österreich alles andere als getrennte Welten. Der inzwischen in die Kritik geratene Eigner des hoch verschuldeten Adler-Immobilienkonzerns, Cedvet Caner, etwa versuchte sich vor seinem Start als Unternehmer auch in der Politik: Als Obmann der Sozialistischen Jugend der SPÖ im heimatlichen Linz.

Präsident entschuldigt sich für Sittenbild, das der Demokratie Schaden zufügt

Nach dem Abgang von Kurz hat Van der Bellen sich für ein „Sittenbild“ entschuldigt, das Österreichs Demokratie Schaden zugefügt habe.

Sebastian Kurz ist derzeit die Hauptfigur in diesem Bild. Zu seinen Elementen zählt, dass sich Schmid und andere Kurz´sche Helfershelfer als „Prätorianer“ bezeichnen – in Anlehnung an die Garde zum Schutz römischer Kaiser.

Und vielleicht zählt dazu auch die Abkehr oder der Verrat Kurz’, der seine Getreuen nur wenige Stunden vor seinem „Schritt zur Seite“, bei dem er sein Kanzleramt niederlegte und Clubobmann (Fraktionschef) wurde, fallen ließ: „All diese Vorwürfe, die es da gibt, richten sich gegen Mitarbeiter des Finanzministeriums“, sagte der Noch-Kanzler da. Er habe die Beteiligten kaum gekannt.

„Lüge ist bei ihm ein Standardinstrument“, sagt der Gründer der liberalen Partei Neos, Matthias Strolz, über Kurz und führt an, dass dieser ihm bei Koalitionsverhandlungen gesagt habe, dass er „lügen kann“.

Im Sommer 2020 hatte Kurz über südliche EU-Partner noch verächtlich als „Staaten, die in ihren Systemen kaputt sind“, geredet. Jetzt hat er ein Drama wie am Burgtheater hingelegt und den großen österreichischen Satiriker Karl Kraus bestätigt, der seine Heimat als „Versuchsstation des Weltirrsinns“ nannte.

Zweifel an einer Aufarbeitung der Kurz-Affäre – auch Polizei und Justiz politisch besetzt

Die Bevölkerung ist inzwischen entsetzt: In einer jüngsten Umfrage hatten 71 Prozent der Befragten kein Vertrauen mehr in Kurz. Ein noch nie vorher gemessener Negativ-Wert für einen Spitzenpolitiker.

„Wirklich schwerwiegend sind die Ideen des Machtmissbrauchs und der Umgang mit dem Steuergeld und der Umgang mit der Presse“, rechtfertigte Kurz 2019 die Beendigung der Koalition mit der FPÖ. Nun kämpft er mit ähnlichen Vorwürfen – bleibt aber uneinsichtig: Er sprach bei seiner Vereidigung zum Abgeordneten nach seinem Kanzler-Rücktritt von „Enttäuschung, Resignation, Wut“ – meinte damit aber nicht sein Verhalten oder den Zustand der Alpenrepublik, sondern die Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft.

Der Schriftsteller Franzobel meint, man lebe in Österreich nach dem Motto: „Wer gut schmiert, der fährt gut. Und das hat einen eigenen Menschenschlag hervorgebracht, den Homo corruptus.“

Deshalb bezweifeln viele im Land, dass es je zu einer wirklichen Aufarbeitung der Kurz-Affäre kommt. Ex-Neos-Chef Strolz warnt vor einem Wiederaufstieg Kurz´. Und der frühere linke Abgeordnete und heutige Autor und Journalist Peter Pilz führt an: Die ÖVP habe neben den millionenschweren Mauscheleien mit den Medien systematisch die neuralgischen Punkte bei Polizei und Justiz besetzt.

Passend dazu will der Kripo-Chef Andreas Holzer das Pilz-Buch „Kurz. Ein Regime“ beschlagnahmen lassen. In seinem Magazin „Zackzack“ hatte Pilz geurteilt: „Die ehemals staatstragende ÖVP ist heute staatszersetzend. Seit 1987 an der Macht und tief in Korruptionsaffären verstrickt, ist sie nicht mehr in der Lage, zu regieren.“

Und wie immer in Österreich gilt die Unschuldsvermutung.

Mehr: Sebastian Kurz ist gescheitert, auch sein Vermächtnis ist enttäuschend

.
source site