Linde-Chef Sanjiv Lamba und Steve Angel: „Wir brauchen Atomkraft“

München, Düsseldorf Angesichts des steigenden Strombedarfs und der immer höheren Energiepreise wird in der Wirtschaft der Ruf nach einem Comeback der Kernkraft lauter. Steve Angel, der Chef des Linde-Konzerns, und sein designierter Nachfolger Sanjiv Lamba sehen den deutschen Atomausstieg als Fehler. „Wir werden einen Energiemix brauchen. Dazu gehört auch Atomkraft“, sagte Lamba im Gespräch mit dem Handelsblatt. Und Angel ergänzte: „Bill Gates hat zu 100 Prozent recht.“

Die beiden Linde-Manager forderten zudem, stärker auf Gas als Brückentechnologie zu setzen. Lamba, der am 1. März den CEO-Posten übernimmt, sagte mit Blick auf den CO2-Ausstoß: „Es würde für die Welt absolut Sinn ergeben, alle Kohlekraftwerke sofort zu schließen und durch Gaskraftwerke zu ersetzen.“

Bei Lindes Wachstumsplänen spielt der grüne Wasserstoff eine zentrale Rolle. Die Sparte Clean Energy könne eines Tages mehr als die Hälfte des Konzernumsatzes beisteuern, sagte Lamba. Aktuell sind es unter zehn Prozent.

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Nur wenige Unternehmen sind in der Industrie weltweit so eng vernetzt wie Linde. Industriegase werden in der Produktion bei sehr vielen Prozessen eingesetzt, zum Beispiel in der Chemieindustrie und bei den Autobauern. Schon deshalb hat es Gewicht, wenn die Führungsspitze des zweitwertvollsten Dax-Konzerns ein Plädoyer für die Kernenergie und für Gaskraftwerke abgibt. In der Öffentlichkeit müsse derzeit alles grün sein, sagte Linde-CEO Steve Angel dem Handelsblatt. Doch wenn er mit Industriemanagern spreche, sei allen klar, dass man auch Gas brauche.

Auch andere Manager sprachen sich pro Atomkraft aus

Auch beim Ruf nach Kernenergie stehen die Linde-Manager nicht allein da. Es gibt eine Reihe von Managern, die glauben, dass der wachsende Strombedarf in den kommenden Jahren nicht allein durch erneuerbare Energien gedeckt werden wird können.

So sprach sich Ex-BASF-Chef Jürgen Hambrecht vor wenigen Tagen für eine Laufzeitverlängerung der sechs verbliebenen deutschen Atomkraftwerke aus. Wenn Deutschland wie geplant Ende des kommenden Jahre aus der Kernenergie aussteige und früher als 2038 aus der Kohleverstromung, komme die Energieversorgung in Deutschland „schnell an Grenzen“, sagte er in einem Interview mit der Onlineausgabe des Magazins „Cicero“. Man brauche „eine Rückfalloption, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint“.

Auch VW-Chef Herbert Diess hatte bereits vor zwei Jahren gesagt: „Um das Klima zu schützen, sollte Deutschland zuerst aus der Kohleverstromung aussteigen und dann erst aus der Atomenergie.“ Ähnlich sah das Linde-Verwaltungsratschef Wolfgang Reitzle. Er plädierte in der Vergangenheit dafür, die Kernenergie solle Bestandteil der deutschen Energiepolitik bleiben.

Doch in der Wirtschaft gibt es auch viele skeptische Stimmen. Die Atomkraftkonzerne wie RWE, Eon und Co. selbst haben solchen Gedankenspielen aber immer wieder eine Absage erteilt. Auch bei Siemens Energy rechnet man nicht mit einem AKW-Comeback in Deutschland. „De Atomausstieg ist in vollem Gange, das Thema ist politisch entschieden“, sagte Vorstand Jochen Eickholt. Man solle sich besser darauf konzentrieren, „den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben und uns auch mit Transferlösungen wie Gas zu beschäftigen“.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Angel, Sie haben die Margen immer weiter verbessert, selbst in der Pandemie. Aber man kann die Kosten nicht endlos drücken. Braucht Linde unter Ihrem Nachfolger jetzt eine Wachstumsstory?
Angel: Zuerst einmal müssen Sie sehen, dass wir schneller gewachsen sind als unser Hauptwettbewerber. Zugleich haben wir auch Kosten gesenkt. Wichtig ist, dass Sie beides tun.

Aber was wird nach der Ära Angel nun die Lamba-Story?
Lamba: Die Lamba-Story ist die Linde-Story und insofern ganz einfach eine Fortsetzung. Wir haben eine klare Vision: Wir wollen weiterhin die beste Industriegase- und Anlagenbaufirma der Welt sein. Da geht es nicht nur um Umsatz und Margen.

Sondern um was noch?
Lamba: Uns sind alle Stakeholder-Gruppen gleich wichtig. Nehmen Sie etwa die Communities: Während der Pandemie waren etwa 40.000 Linde-Mitarbeiter, also 60 Prozent unserer Belegschaft, jeden Tag unterwegs, um zu Patienten nach Hause zu gehen oder die Krankenhäuser mit Gesundheitsgasen zu versorgen. Das macht uns aus.

Das große Zukunftsfeld soll aber Clean Energy, also saubere Energie, sein. Herr Angel, Sie wollen den Umsatz mit Wasserstoff von zwei auf acht Milliarden Dollar steigern. Die Welt giert nach Wasserstoff, ist die Prognose nicht arg konservativ?
Angel: Unsere Ankündigung ist deutlich aggressiver als alles, was andere sich vorgenommen haben. Zum Schluss ist die alles entscheidende Frage doch, wie schnell sich der Markt entwickelt. Das Potenzial ist auf jeden Fall riesig. Wenn nur ein Prozent der Lastwagen weltweit auf Wasserstoff umgestellt wird, ist das ein 20-Milliarden-Dollar-Markt. Damit allein kann unser Geschäft viel größer werden als acht Milliarden. Aber dafür müssen die Kosten für grünen Wasserstoff runter und es braucht die entsprechenden Weichenstellungen und die Unterstützung der Politik.

In welcher Form?
Angel: Wir brauchen einerseits Anreize für die Umstellung auf saubere Energie und andererseits Sanktionen – zum Beispiel in Form von CO2-Bepreisung. Wenn die Tonne CO2 100 Dollar kostet, dann muss jede Firma umdenken. Deutschland ist auf diesem Weg eindeutig weiter als die USA.

Wie lang wird es dauern, bis Wasserstoff den Durchbruch schafft?
Angel: Bis Mitte der Dekade werden wir schon, das ist für mich der Tipping Point, große Fortschritte sehen. In den folgenden zehn Jahren, also bis 2035, wird der Markt um ein Vielfaches größer sein als heute. Aber wir haben noch viel zu tun. Nehmen Sie nur das Beispiel von Langstrecken-Trucks. Wenn Daimler mit seinen neuen Modellen auf den Markt kommt, kann das der Durchbruch sein.

Wie groß kann das Geschäft mit Clean Energy für Linde werden? Aktuell sind es weniger als zehn Prozent des Umsatzes. Kann es eines Tages die Hälfte sein?
Lamba: Ja. Eines Tages sicherlich. 2050 kann der Markt für Wasserstoff zwischen 150 Milliarden und einer Billion Dollar groß sein.

Wann genau könnte Clean Energy die Hälfte des Umsatzes beisteuern?
Lamba: Von Steve habe ich eines gelernt: Gib ein Ziel vor, aber nenne kein Datum!

Haben Sie alle Expertise für das Wasserstoffzeitalter im Haus oder sehen Sie sich nach Zukäufen um?
Lamba: Linde hat eine einzigartige Positionierung, weil wir jeden Aspekt der Wertschöpfungskette abdecken können. Wir haben jede Technologie im Haus, niemand auf der Welt hat in Sachen Wasserstoff diese technologischen Fähigkeiten.

Ist das im Aktienkurs eingepreist?
Angel: Das ist schwer zu beurteilen. Wir glauben, dass wir jedes Jahr den Gewinn pro Aktie im Kerngeschäft zweistellig steigern können. Die Wasserstoff-Chancen kommen obendrauf.

Ist Wasserstoff das neue Öl?
Angel: Nehmen wir einmal Südkorea, das Land, das Wasserstoff am aggressivsten vorantreibt. Dort sollen 40.000 Brennstoffzellen-Busse bis 2040 auf der Straße sein. Das ersetzt Dieselkraftstoff. Ähnlich sieht es bei Schwerlastwagen und Schiffen aus. Daher kann man schon sagen: Wasserstoff hat das Zeug dazu, ja.

„Bill Gates hat zu 100 Prozent recht“

Wird Wasserstoff reichen? Wir haben gerade mit Bill Gates gesprochen. Er sagt, die Welt wird neue Atomkraftwerke brauchen, um die Klimaziele zu erreichen.
Angel: Bill Gates hat zu 100 Prozent recht: Wir brauchen die Atomkraft, denn sie kann effizient und klimaneutral die Grundlast für die Stromnetze stellen. Es wird enorm teuer, wenn wir auf einen Schlag komplett auf erneuerbare Energien umstellen wollen. Jeder will saubere Energie – aber alle wollen auch zu vertretbaren Preisen immer genug Strom haben, damit das Licht geht und die Maschinen laufen. Solarkraft und Windenergie sind aber sehr volatil, das macht die Energie dann teuer.

War also der deutsche Atomausstieg ein Fehler, Herr Lamba?
Lamba: Wie Steve richtig sagt, wir werden einen Energiemix brauchen. Dazu gehört auch Atomkraft. Bill Gates unterstützt die Idee kleiner, effizienter Atomkraftwerke. Wir beobachten das sehr genau. Vielleicht wird das für die Menschen ein akzeptabler Weg mit kleineren Risiken.

Also ja?
Lamba: Ja, der deutsche Atomausstieg war sicherlich nicht genial.

Gerade läuft der Klimagipfel in Glasgow. Wo sehen Sie die Schwierigkeiten beim globalen Klimaschutz?
Angel: Vieles hängt von China ab. Das Land plant sechsmal so viele neue Kohlekraftwerke, wie es insgesamt in Deutschland gibt. Solar, Wind und Wasserstoff werden zwar ebenfalls gefördert, aber die Wirtschaft in den meisten Provinzen hängt nach wie vor an der Kohle. Wenn China entscheidet, die Kohlekraftwerke nicht runterzufahren, ist alles, was der Rest der Welt macht, zwar nicht völlig umsonst, aber auf jeden Fall zu wenig.
Lamba: Es ist ja nicht alles per se schlecht, was CO2 ausstößt: Ein modernes Gaskraftwerk stößt ungefähr die Hälfte der Emissionen eines Kohlekraftwerks aus. Insofern würde es für die Welt absolut Sinn ergeben, alle Kohlekraftwerke sofort zu schließen und durch Gaskraftwerke zu ersetzen. Das wäre schon mal ein erster Schritt.

Wenn Gas als Zwischenschritt der größte Hebel ist, warum reden alle nur von grünem Wasserstoff?
Angel: In der öffentlichen Meinung ist eben alles auf das Ziel gerichtet, dass alles grün sein sollte. Doch wenn ich mit Industriemanagern spreche, ist allen klar, dass wir auch Gas brauchen.

Chinas Kurs ist schwer abzuschätzen. Das macht die Geschäfte dort schwierig, oder?
Angel: Es gab auch bei uns verschiedentlich Produktionsunterbrechungen wegen fehlendem Strom, auch bei Kunden. Aber insgesamt fühlen wir uns wohl mit unserer Position in China. Wir produzieren lokal für lokale Kunden. So sind wir von der Unterbrechung der Lieferketten in der Region nicht so stark betroffen. Es gibt große Wachstumschancen für uns in China. Das Land ist fest entschlossen, eine Halbleiterindustrie aufzubauen, da werden unsere Gase gebraucht.

„Das größte Risiko wäre ein militärischer Konflikt zwischen den USA und China“

Aber wohin bewegt sich China, Herr Lamba? Die Führung tritt zunehmend autoritär auf, auch der Wirtschaft gegenüber.
Lamba: China ist engstens mit der Weltwirtschaft vernetzt und wird sich deshalb nicht isolieren. Zweifellos steuert die Regierung die Wirtschaft über eine Art Soft Power, geht dabei aber behutsam vor. Klar ist, dass China auf lange Sicht weiter wachsen wird, auch unterstützt durch die demografische Entwicklung.
Angel: Alle großen Konzerne müssen in China präsent sein. Der Markt ist zu groß, um ihn zu ignorieren. Man sollte anpassungsfähig sein und so versteht es sich von selbst, dass unsere Organisation dort ausschließlich chinesische Mitarbeiter hat …
Lamba: … und zudem profitieren wir als Linde von unserer deutschen DNA, die seit Jahrzehnten in China sehr respektiert ist.

Die Spannungen zwischen China und den USA wachsen. Manche sprechen schon von einem neuen kalten Krieg.
Angel: Das größte Risiko wäre ein militärischer Konflikt zwischen den USA und China. Man kann sich streiten, aber man sollte sich immer zusammensetzen und den Konflikt lösen. Die wirklich spannende Frage ist, was passieren würde, wenn China nach Taiwan greifen würde. Taiwan ist nicht in der Nato, es gibt keine Beistandspflicht. Die USA haben gesagt, dass sie die Verteidigung Taiwans zwar unterstützen, nicht aber, dass sie Taiwan verteidigen. China wäre gut beraten, keine rote Linie zu überschreiten, sondern eher behutsam vorzugehen. Aber Regierungen sind manchmal unberechenbar.

Die Lage in der Weltwirtschaft ist ja fast schon paradox. Es gibt große Nachfrage, die aber wegen Materialknappheit und Logistikproblemen kaum bedient werden kann.
Angel: Ja, und die Probleme in den globalen Lieferketten werden wohl noch bis in die zweite Hälfte 2022 anhalten.

Aktuell steigen überall die Preise. Wird Inflation ein nachhaltiges Problem für Linde?
Angel: Linde kann gestiegene Kosten meist sofort an die Kunden weitergeben. Das ist das Besondere an unserem Geschäftsmodell.

„Die Inflation wird nicht morgen verschwinden“

Und wird Inflation für die Welt ein Problem?
Angel: Auf längere Sicht ja. Solange die Nachfrage höher ist als das Angebot, bleibt die Inflation hoch. Und solange so viel billiges Geld unterwegs ist, erst recht.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde glaubt ja, dass die Inflation ein vorübergehendes Phänomen ist.
Lamba: Da muss ich Christine Lagarde und auch der US-Notenbank widersprechen. Die Inflation wird nicht morgen verschwinden, sondern uns noch eine Weile begleiten.

Da sind Sie einer Meinung. Was passiert bei Linde, wenn Sie einmal unterschiedlicher Meinung sind? Herr Angel, Sie wechseln direkt an die Spitze des „Aufsichtsrats“. In Deutschland wäre eine zweijährige Cooling-off-Phase notwendig. Besteht die Gefahr, Herr Lamba, dass er Ihnen reingrätscht?
Lamba: Ich bin ja schon seit Jahresbeginn Chief Operating Officer und konnte seither das Geschäft mit großer Unabhängigkeit führen. Was sollte sich also ändern … Vom Cooling-off bin ich ohnehin nicht überzeugt. In der Rückschau zeigt sich ganz klar, dass das Cooling-off von Wolfgang Reitzle nicht gut für die Linde AG war …
Angel: Das war deutlich. Schauen Sie, Sanjiv und ich arbeiten super zusammen und haben Spaß. Ins Tagesgeschäft werde ich mich bestimmt nicht einmischen.

Sie beide sind sehr hungrig nach Erfolg. Liegt das vielleicht an Ihren Wurzeln? Sie, Herr Angel, waren der Erste in der Familie, der studiert hat. Herr Lamba kommt auch nicht aus dem klassischen westlichen Establishment.
Lamba: Ich stamme aus einer Militär-Familie in Indien, da bin ich mit meiner Unternehmenslaufbahn die Ausnahme. Hungrig sein ist ja vor allem eine Frage des Charakters und woran man glaubt …
Angel: Ganz genau, ich habe mich stets angestrengt und daran gearbeitet, mich zu verbessern. Ich bin eben von Natur aus auf Wettbewerb gepolt.

Herr Angel, Herr Lamba, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Sanjiv Lamba wird zum 1. März neuer Linde-Chef – Steve Angel folgt auf Reitzle als Chefkontrolleur

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