Im Schatten des Krieges – Die Verwandlung

Es gehe ihr nicht nur „um Hauptstadt-Außenpolitik“, sagt die Grünenpolitikerin nach dem Treffen, bei dem ihr die Frauen berichten, wie seit dem Kriegsausbruch vor acht Jahren die Gewalt in Familien, Alkoholismus und Verwahrlosung zunahmen. Sondern es gehe ihr um das, was Baerbock als „das wahre Leben“ fernab der Hauptstadtdiplomatie sieht.

Zuvor war sie in Schyrokine, einem seit 2014 verlassenen Dorf, von dem aus das Schwarze Meer und sein dort verlassener Strand zu sehen sind. Da hatte Baerbock Schutzhelm und kugelsichere Weste angelegt im Dunkelblau der OSZE, die an der „Kontaktlinie“ – wie die Front im Diplomatendeutsch heißt – neutral die Stellung hält. Die 41-Jährige wirkt angefasst. Sie habe „sehr bedrückende Bilder“ gesehen und habe „sehr bedrückende Gefühle“.

Die Bilder von Baerbock an der Front hinterlassen mehr als 2000 Kilometer entfernt in Deutschland Eindruck. Auch, weil die Ministerin trotz der für gewöhnlich hölzernen Diplomatensprache bei ihren Auftritten weiterhin sehr klare Worte findet. 

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Als sie im Dezember Außenministerin wird, wirkt sie dorthin zunächst ein wenig wie abgeschoben. Hinter ihr lag ein Wahlkampf voller Pleiten, Pech und Pannen. Ihr Wunschressort, das Klimaministerium, ging an Robert Habeck.

Das Außenministerium dagegen galt schnell als eine Art Unterabteilung des Kanzleramts. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich tönte kurz nach Baerbocks Amtseinführung, deutsche Außenpolitik werde „im Kanzleramt gesteuert“. Hinter vorgehaltener Hand spotteten Sozialdemokraten über Baerbocks fehlende außenpolitische Erfahrung.

Baerbock mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)

Als sie Außenministerin wurde, lag hinter Baerbock ein enttäuschender Wahlkampf.

(Foto: Reuters)

Baerbock, denken damals viele, werde ein ähnliches Schicksal ereilen wie ihren Vorgänger Heiko Maas (SPD). Im Schatten Angela Merkels konnte Maas nie eigene Akzente setzen. Auch die Bevölkerung traute der einstigen grünen Kanzlerkandidatin zunächst wenig zu. Laut Umfragen schien Baerbock dem Amt nicht gewachsen.

Doch sie emanzipierte sich erstaunlich schnell von all den Vorurteilen. Während viele SPD-Minister in der aktuellen Krise blass bleiben, ist die grüne Außenministerin angesehen wie nie. Im „Sonntagstrend“, den das Meinungsforschungsinstitut Insa für die „Bild am Sonntag“ erhebt, ist die Grünenpolitikerin derzeit beliebteste Ampelministerin.

Selbst konservative Politiker, Experten und Kommentatoren loben die Arbeit der 41-Jährigen. „Man kann und muss an der Ampelkoalition viel kritisieren, aber vor dem, was Annalena Baerbock abliefert, ziehe ich meinen Hut“, twitterte der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke nach Baerbocks Auftritt vor den Vereinten Nationen in New York vor wenigen Wochen.

Wie kam es dazu? Wie hat es Baerbock geschafft, in dieser schwierigen Rolle und Zeit als Außenministerin die Erwartungen derart zu übertreffen?

Außenministerin Baerbock in Russland

Bei ihrem Besuch des russischen Außenministers Sergej Lawrow zeigte sich die Ministerin souverän.

(Foto: dpa)

Kein Außenminister ist so langgedient wie der bärbeißige Sergej Lawrow. Russlands Außenminister ist ein Meister darin, westliche Diplomaten vorzuführen. Doch Mitte Januar, als Baerbock zu ihrem Antrittsbesuch nach Moskau reist, ist davon nichts zu sehen.

Lawrow begegnet der Ministerin für seine Verhältnisse respektvoll. Mehr noch, er blickt während der Pressekonferenz oft erstaunt Richtung Baerbock, so, als sei eine neue Spezies im Kreml gelandet.

Baerbock ist klar, souverän – zeigt aber auch die nötige Härte. Sie spricht von gemeinsamer Verantwortung der beiden Länder, aber auch diesen Satz mit Blick auf die vielen Tausend Soldaten an der ukrainischen Grenze: „Es ist schwer, das nicht als Drohung zu verstehen.“

Mit ihrem Auftritt erarbeitet sie sich ein erstes Ansehen auf der diplomatischen Weltbühne – vermutlich ohne zu ahnen, dass die russische Führung nur wenige Wochen später die Drohung wahrmachen würde, die sie in Moskau benannte.

Deutschland steht vor großen Aufgaben

Als Baerbock in Schyrokine, dem verlassenen Dorf steht, erzählt sie, die Menschen hätten damals auf der Flucht nach Kriegsausbruch die meisten Habseligkeiten liegen lassen. Noch jetzt liege Spielzeug im tauenden Schneematsch, die Häuser seien übersät mit Einschusslöchern und Zeugen des „Kriegs mitten in Europa“.

„Wir werden vermutlich über Jahre mit Russland einen aggressiven Nachbarn managen müssen“, sagt Stefan Meister, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), dem Handelsblatt. „In dieser Lage muss Deutschland Verantwortung in Europa übernehmen, obwohl es militärisch schlecht aufgestellt ist und wenig beitragen kann.“

Baerbocks Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass Deutschland dennoch bei allen internationalen Entscheidungen eine Rolle spiele – und die militärische Bedeutungslosigkeit nicht auch zu einer politischen führe. „Hierbei ist Scholz auf Baerbock angewiesen, weil sie – anders als der Kanzler – brillant kommunizieren kann“, so Meister. Das zeichne sie aus – und das sei einer der wichtigeren Gründe für ihren guten Start als Außenministerin.

Ihre kommunikativen Fähigkeiten zeigt Baerbock etwa am Mittwoch bei ihrer Rede im Bundestag, in der sie ihren Ansatz der feministischen Außenpolitik verteidigte. Diese sei „kein Gedöns“, sagte sie. Oder Anfang März vor den Vereinten Nationen. Da beginnt sie mit der Geschichte der kleinen Mia, die in einem Luftschutzbunker in Kiew zur Welt kam. „Warum? Weil Russland einen brutalen Krieg gegen die Ukraine gestaltet hat!“, ruft sie.

Annalena Baerbock

Die Außenministerin hielt vor der UN-Vollversammlung eine bemerkenswerte Rede.


(Foto: imago images/photothek)

Im Saal appelliert sie dann an die Vertreter der 192 weiteren UN-Mitgliedstaaten, eine Abstimmung über eine gegen Russland gerichtete Resolution zu unterstützen. Die Abstimmung gelte Mia.

Schon in ihrer Antrittsrede als Außenministerin, als Russland seine Streitmacht an der ukrainischen Grenze noch aufbaute, hatte Baerbock ungewohnt deutliche Worte gefunden. Deutschland werde die Ukraine in ihrem Bemühen gegen die Aggression und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim unterstützen, sagte sie.

>> Lesen Sie hier: „Handeln oder wegschauen – wir müssen uns entscheiden“: Baerbock wirbt eindringlich für Resolution gegen Russland

„Sie hatte keine großen Fußstapfen, in die sie treten musste, aber sie macht ihren Job gut“, lobt ein europäischer Kollege die Neue. Baerbock mache sogar „einen herausragenden Job“, findet Klimaforscher Ottmar Edenhofer. Er sei immer gern bereit, die Grünen wegen ihrer Skepsis gegenüber marktwirtschaftlichen Instrumenten zu kritisieren. Aber die Grünen und gerade Baerbock bewiesen, dass man eine werteorientierte Außenpolitik betreiben könne.

Viel wurde im Wahlkampf über das Video gespottet, in dem Baerbock Habeck bescheinigte, „vom Hühner-, Schweine-, Kühemelken zu kommen, und sie eher vom Völkerrecht“. Baerbock wurde das nicht zu Unrecht als Arroganz ausgelegt.

Abgelegte Unsicherheit

Doch tatsächlich hat sie sich gewissenhaft auf ihr neues Amt vorbereitet. Baerbock lerne sehr schnell, frage nach, lasse sich beraten, höre zu, heißt es aus ihrem Ministerium. Und, was wie eine Breitseite gegen ihren Amtsvorgänger Maas klingt: Sie habe echtes Interesse an der Aufgabe. Auch dass es Baerbock gelang, einen dritten Staatssekretär für ihr Haus zu verhandeln, stärkte intern ihre Position. Darum hatte sich Sigmar Gabriel (SPD) einst vergeblich bemüht.

Dass Baerbock eine der wichtigsten Personalien in Scholz’ Kabinett würde, war zu Amtsbeginn im Dezember nicht zu erwarten. Erst kurz vor den Wahlen hatte sich Baerbock nach ihren fortlaufenden Patzern wieder gefangen. In den TV-Triellen war sie plötzlich wieder faktensicher, rhetorisch stark, angriffslustig und konnte immer wieder gegen ihre Kontrahenten Olaf Scholz und Armin Laschet punkten, auch wenn es da längst zu spät war.

>> Lesen Sie hier: Das sind die Herausforderungen für die erste Außenministerin Deutschlands

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Baerbock alle Unsicherheiten abgelegt. Dass sie bei ihren ersten öffentlichen Auftritten als Außenministerin für ihr vermeintlich schlechtes Englisch viel Häme einstecken musste, dürfte sie nicht weiter tangieren. Im Wahlkampf hat sie schlimmere Momente erlebt.

„Baerbock kann nun frei aufspielen und eigene Akzente setzen – bei Themen, bei denen sie vorher diplomatisch herumlavieren musste“, sagt DGAP-Experte Meister. Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist ein Beispiel. Baerbock hält die Gaspipeline seit Jahren für einen Fehler, musste sie als Außenministerin allerdings verteidigen – bis der Krieg ausbrach. Und kann nun darauf verweisen, immer schon im Recht gewesen zu sein.

Baerbock kann nun frei aufspielen und eigene Akzente setzen – bei Themen, bei denen sie vorher diplomatisch herumlavieren musste. Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)

Doch Baerbock weiß nur zu gut, dass es weiterhin jede Menge Kritiker gibt, die geradezu auf Fehler von ihr lauern und sie gern als unfähig abstempeln würden. Und bei ihrem Besuch in Mariupol, wo sie die heute zerstörte Wasserversorgung der eingeschlossenen Stadt, die einst mit deutscher Hilfe auf Vordermann gebracht wurde, anschaut, unterläuft ihr ein solcher Fehler.

In Treue zur Tradition des Amts am Berliner Werderschen Markt und zu Kanzler Scholz wiederholt sie gebetsmühlenartig: Es werde keine Waffenlieferungen an die Ukraine geben.

Diese Position wird wenige Tage später unter russischen Panzerketten zerquetscht, Berlin ändert seine Haltung. Und Baerbock ereilt das gleiche Schicksal wie ihre Vorgänger, etwa Frank-Walter Steinmeier, den heutigen Bundespräsidenten.

Jetzt ist es Olaf Scholz, der die Telefonleitungen bei Dauergesprächen mit Washington, Paris, Brüssel, Moskau, Kiew glühen lässt, sie ist zunächst außen vor. Der Kriegsbeginn leitet eine historische Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ein.

100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, Waffenlieferungen in die Ukraine, das vorläufige Aus für Nord Stream 2 – Entscheidungen, die am Tag zuvor noch undenkbar schienen, fallen nun innerhalb von Stunden. Sie müssen von Baerbock nicht nur vertreten, sondern auch erklärt werden – im Ausland und vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung.

Ungewöhnliche Mittel

Andere Themen geraten angesichts des Kriegs völlig in den Hintergrund. So gelang es Baerbock, die internationale Klimapolitik aus dem Umweltministerium ins Außenamt zu holen. Schlagzeilen machte sie damit bislang aber nur, als sie die umstrittene Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan als Staatssekretärin holte, um diesen Bereich zu verantworten.

Auch die Staatsminister, die anders als Morgan schon im Amt sind, sprechen keineswegs nur eine Sprache. Der frühere grüne Verteidigungspolitiker Tobias Lindner wird als pragmatisch wahrgenommen, seine Kollegin Katja Keul, zuvor Abrüstungspolitikerin ihrer Bundestagsfraktion, als bremsend links.

Eigentlich war erwartet worden, dass Baerbock im Amt ständig zwischen außenpolitischer Realpolitik und grüner, wertegeleiteter Außenpolitik vermitteln muss. Doch der Krieg hat die Koordinaten grundlegend verschoben – in Richtung Realpolitik.

Mitunter greift Baerbock in dem Konflikt zu ungewöhnlichen Mitteln. Zu Beginn des Kriegs bat sie junge Erwachsene aus der Ukraine, Russland und Belarus ins Außenministerium, die derzeit in Deutschland leben. Eine Stunde lang hörte sie ihnen zu, stellte Fragen zum Konflikt und dazu, wie die Regierung helfen könne. Baerbock ging es darum, ein Gefühl für die persönliche Dimension des Kriegs zu erhalten.

Baerbock in einem Flüchtlingslager in Moldau

Die Grünenpolitikerin betonte jüngst das Leiden von Frauen und Kindern in kriegerischen Auseinandersetzungen – und erntete in den sozialen Medien Kritik.

(Foto: dpa)

Immer wieder nimmt sie das menschliche Leid in den Blick, vor allem das von Frauen und Kindern. Manchmal ist das eine Gratwanderung. Als sie jüngst davon sprach, dass Frauen von Krisen und Konflikten besonders betroffen wären, regte sich in den sozialen Netzwerken sofort Protest.

Im Krieg würden ganz klar Männer stärker belastet, so der Tenor. Baerbock verliere mit solchen Äußerungen jeden Zuspruch, den sie sich durch ansonsten gute Außenpolitik erarbeitet habe.

Aufgewachsen ist Baerbock in Pattensen, einem Dorf nahe Hannover, sie lebt aber seit Langem in Brandenburg. Die Ministerin ist verheiratet und hat zwei Kinder im Grundschulalter. Vor ihrer Kandidatur zur Bundesvorsitzenden der Grünen hatte sie nach eigenen Angaben lange überlegt, „ob das alles überhaupt gehen kann“. Zwei kleine Kinder, ein Bundestagsmandat und dann auch noch der Parteivorsitz? Am Ende stand für sie fest: Das muss möglich sein.

Die Spitzenkandidatur im vergangenen Jahr wollte sie unbedingt, ebenfalls den Sprung ins Außenministerium. Jetzt, im Schatten des Kriegs, hat sie ihren verpatzten Wahlkampf längst vergessen lassen. 

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