Experten fordern Neuanfang in der Klimapolitik

Berlin Vor Beginn der vertiefenden Sondierungsgespräche zwischen SPD, Grünen und FDP sind die Erwartungen an die drei möglichen Koalitionspartner extrem hoch. Wenn Deutschland das Ziel, bis 2045 klimaneutral zu werden, nicht verspielen wolle, müsse es in der Energie- und Klimapolitik eine neue Dynamik geben. „Wir brauchen eine Kombination aus starkem Willen, marktwirtschaftlicher Orientierung und industriepolitischer Kompetenz“, sagt der Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena), Andreas Kuhlmann, im Interview mit dem Handelsblatt.

„Wir stehen vor einer tiefgreifenden Transformation“, sagt Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Mitglied des Beirats der gerade vorgestellten Dena-Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“. Sie halte es für eine „gute Sache“, dass FDP und Grüne in gemeinsame Gespräche eingestiegen seien.

„Aus den großen Ambitionen der Grünen beim Klimaschutz und den marktorientierten Instrumenten der FDP ergibt sich eine interessante Kombination“, so Grimm. „Ich glaube, wir können in den nun denkbaren Dreierkonstellationen deutliche Fortschritte im Klimaschutz erzielen.“

Die nächste Bundesregierung müsse „entschiedener und schneller agieren, als es die bisherige getan hat“, erklärt die Wirtschaftsweise weiter. Es brauche ein schlüssiges Gesamtkonzept statt dem aktuellen Nebeneinander kleinteiliger Maßnahmen. Klimaneutralität könnte nicht mit immer neuen Milliardenbeträgen herbeigefördert werden, sagt sie mit Blick beispielsweise auf die Kaufprämien für Elektroautos.

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„Solche Programme wecken immer neue Begehrlichkeiten. Wir sollten nicht mit Subventionen für die individuelle Mobilität arbeiten, sondern eher mit dem Ausbau von Infrastrukturen.“

Man müsse sich „eingestehen, dass wir unsere Industrie nicht in der heutigen Form erhalten können“. Natürlich würden sich einige Wertschöpfungsketten ins Ausland verlagern. „Aber es wird auch neue industrielle Wertschöpfung entstehen, das dürfen wir nicht durch einen Fokus auf die Bestandswahrung einbremsen.“

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Frau Grimm, Herr Kuhlmann, was muss die nächste Regierung in der Energie- und Klimapolitik grundlegend anders machen?
Grimm: Die nächste Regierung muss entschiedener und schneller agieren, als es die bisherige getan hat. Wir brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept statt dem aktuellen Nebeneinander kleinteiliger Maßnahmen. Zu den ersten Maßnahmen sollte gehören, die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) komplett zu streichen. Das allein wirkt wie ein Sofortprogramm, das die Attraktivität strombasierter Anwendungen enorm steigern würde. Außerdem muss der Ausbau der Energieinfrastruktur stark beschleunigt werden. Beispiel Wasserstoff: Es kann nicht sein, dass ein Wasserstoffnetz im Süden Deutschlands erst Mitte des nächsten Jahrzehnts zur Verfügung steht.

Was fordern Sie, Herr Kuhlmann?
Unsere gerade veröffentlichte Studie listet Handlungsempfehlungen für die nächste Regierung in Form von 84 Aufgaben auf. Es braucht einen klaren Fokus auf den ökonomischen Rahmen und die passende Regulierung. Auch Fördermittel wird es in Zukunft geben müssen, aber hier muss man insgesamt stärker auf Effizienz achten. Und am Ende wird man auf dem Weg zur Klimaneutralität auch um Gebote und Verbote nicht herumkommen. Aber je mehr wir die erstgenannten Aspekte beachten, desto weniger müssen wir auf Verbote setzen, die immer die Gefahr bergen, erforderliche Technologiepfade zu verstellen.

Welche Regierungskoalition wäre am ehesten dazu in der Lage, im Klimaschutz voranzukommen?
Grimm: Ich halte es für eine gute Sache, dass FDP und Grüne in gemeinsame Gespräche eingestiegen sind. Aus den großen Ambitionen der Grünen beim Klimaschutz und den marktorientierten Instrumenten der FDP ergibt sich eine interessante Kombination. Ich glaube, wir können in den nun denkbaren Dreierkonstellationen deutliche Fortschritte im Klimaschutz erzielen.
Kuhlmann: Wir brauchen eine Kombination aus starkem Willen, marktwirtschaftlicher Orientierung und industriepolitischer Kompetenz. Und bei alledem darf man die sozialpolitische Komponente für das Gelingen dieser Transformation nicht aus dem Blick verlieren.

Das klingt, als befürworteten Sie eine Ampelkoalition, Herr Kuhlmann, richtig?
Als Chef der Deutschen Energie-Agentur halte ich mich da zurück. Es kommt darauf an, dass die künftigen Koalitionspartner als Team auftreten und gemeinsame Ziele verfolgen.

Die noch amtierende Koalition hat mit der Novelle des Klimaschutzgesetzes die Klimaziele noch einmal verschärft. War das sinnvoll?
Kuhlmann: Unsere Studie zeigt, dass wir neue Dynamik aufbauen müssen, um die Ziele zu erreichen. Die jahresscharfen Sektorziele des Klimaschutzgesetzes sind für die Jahre 2021, 2022 und 2023 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erreichbar. Dessen muss sich die neue Bundesregierung bewusst sein. Es macht keinen Sinn, einen Koalitionsvertrag zu beschließen, der neuen Schwung bringen soll und im nächsten Frühjahr dann gleich wieder mit sektorspezifischen Sofortmaßnahmen nachzusteuern. Die Politik sollte sich gut überlegen, wie sie mit diesem Widerspruch umgehen will.

Welche Konsequenz muss man daraus ziehen?
Grimm: Ich hoffe, dass in der Politik ein Umdenken einsetzt. Wir müssen zu einem System kommen, das den Emissionshandel in den Mittelpunkt rückt. Die EU-Kommission geht ja mit ihren Vorschlägen für eine Ausweitung des Emissionshandelssystems auf die Sektoren Gebäude und Verkehr voran. Der Zertifikatehandel macht es möglich, Emissionsreduktionsziele effizient zu erreichen und Zertifikate über Sektoren, Ländergrenzen und Perioden hinweg zu handeln. Das ist mit dem starren Korsett des Klimaschutzgesetzes schwer vereinbar. Ich sehe es sehr kritisch, wenn man auf der Basis eines solchen Gesetzes Jahr für Jahr neue Sofortprogramme lostreten muss, um die Zielverfehlungen auszugleichen. So wird Klimaschutz besonders teuer und ineffizient.

Das Umweltbundesamt (UBA) hat gerade erst gefordert, die Ziele des Klimaschutzgesetzes erneut zu verschärfen. Wie bewerten Sie das?
Kuhlmann: Das hat mich sehr gewundert. Die Deutsche Energie-Agentur wird das der nächsten Bundesregierung ganz sicher nicht empfehlen. Wir müssen jetzt das konkrete Handeln in den Vordergrund stellen. Ein intensiver Blick in unsere Studien und auch in die Studien, die ich vom UBA kenne, zeigt, wie gewaltig die Aufgabe ist. Wir sollten der nächsten Regierung jetzt keine weiteren Knüppel in die Beine werfen, indem wir noch schärfere Ziele für 2030 fordern.

In der Dena-Leitstudie wird von vielerlei Verhaltensänderungen ausgegangen, etwa im Mobilitätssektor. Menschen werden zunehmend mehr Rad fahren und weniger eigene Autos besitzen. Sind die Dinge so einfach?
Grimm: Wir reden auch im Mobilitätssektor über ein ganzes Bündel verschiedener Maßnahmen. Die Ziele lassen sich nicht allein dadurch erreichen, dass wir im Individualverkehr auf eine neue Antriebstechnologie setzen. Darum warne ich auch davor, hier mit immensen Förderprogrammen den Umstieg auf E-Autos zu forcieren und die Individualmobilität, die wir heute kennen, zu verfestigen. Das bindet Mittel in gigantischem Ausmaß. Es muss auch darum gehen, das Mobilitätsverhalten insgesamt zu verändern. Dazu gehört der Ausbau des Schienenverkehrs und von Radwegen ebenso wie die Förderung von Sharing-Angeboten.

Braucht es Verbote im Mobilitätssektor?
Kuhlmann: Verbote sehe ich eher als letzte Option. Wir brauchen kreative Konzepte, die am besten vor Ort entstehen. Wir sollten etwa über City-Maut-Systeme nachdenken und natürlich über den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Vor allem im ländlichen Raum. Wenn wir nur auf E-Mobilitätsprämien setzen, hilft das in erster Linie denjenigen, die die Autos verkaufen, und es zementiert die Individualmobilität vor allem bei eher wohlhabenderen Haushalten. Aber es reicht nicht, um die Klimaziele zu erreichen.
Grimm: Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir Klimaneutralität nicht mit immer neuen Milliardenbeträgen herbeifördern können. Die Kaufprämien für E-Autos sind dafür ein gutes Beispiel. Solche Programme wecken immer neue Begehrlichkeiten. Wir sollten nicht mit Subventionen für die individuelle Mobilität arbeiten, sondern eher mit dem Ausbau von Infrastrukturen.

Muss der Kohleausstieg bis 2030 vorgezogen werden?
Kuhlmann: Wir gehen davon aus, dass 2030 noch insgesamt zwölf Gigawatt (GW) Kohlekapazität im Markt sind, die Erzeugung aber weniger als drei Prozent des Stroms ausmacht. Die Kohlekraftwerke kämen nur selten zum Einsatz. Das ist betriebswirtschaftlich kaum abzubilden. Definitiv werden wir die Klimaziele im Energiesektor nur erreichen, wenn die CO2-Belastungen durch die Kohlekraftwerke stark zurückgehen.

Das spricht für ein Vorziehen des Kohleausstiegs.
Kuhlmann: Wir haben in unserer Studie sehr genau beschrieben, welche Anforderungen an einen vorzeitigen Kohleausstieg zu stellen sind. Es muss klar sein, dass ausreichend gesicherte Leistung im System ist, die immer dann zur Verfügung steht, wenn die Erneuerbaren keinen nennenswerten Beitrag zur Stromerzeugung erbringen können. Außerdem leisten Kohlekraftwerke in vielen Fällen wichtige Beiträge für die Wärmeversorgung. Auch hier brauchen wir verlässlichen Ersatz. Ein schnelleres Aus für die Kohle bedeutet auch einen beschleunigten Strukturwandel in den betroffenen Regionen. Das alles ist nicht trivial und macht ein aktives Projektmanagement erforderlich.

Der Studie zufolge braucht es zusätzlich 15 GW Gaskraftwerke, um den Wegfall gesicherter Leistung bei der Kohle auszugleichen. Werden diese Kraftwerke gebaut?
Grimm: Das hängt davon ab, wie die Anreize am Strommarkt aussehen. Dabei spielen die CO2-Preise natürlich eine entscheidende Rolle. Aber es darf ruhig ein bisschen mehr passieren. Es ist zum Beispiel wichtig, wo die neue gesicherte Leistung entsteht. Das wird nicht ganz ohne Steuerung und Anreize gehen. Aktuell lebt daher die Diskussion über Preise, die nach dem Standort der Stromeinspeisung differenziert sind, wieder auf. Darüber gäbe es klarere Anreize für den Zubau. Zusätzliche Mechanismen, wie Kapazitätsmärkte, könnten Mitnahmeeffekte auslösen, da wäre ich zurückhaltender.

Kuhlmann: Ich denke, es geht nicht anders. Es besteht kein Zweifel, dass wir bis 2030 in erheblichem Umfang gesicherte Leistung brauchen. Die Planungen für Ersatzkapazitäten müssen daher sofort angestoßen werden. Ausreichende Preisspitzen zur Refinanzierung von Gaskraftwerken sind heute nicht kalkulierbar. Daher muss die Idee von Kapazitätsmechanismen wieder aufgegriffen werden: Wer gesicherte Kraftwerksleistung vorhält, soll dafür honoriert werden.

Der schnelle Ausbau der Erneuerbaren ist Grundvoraussetzung für das Erreichen der Klimaschutzziele. Wie lassen sich die Bremsklötze lösen?
Grimm: Es gibt nicht das eine Instrument, mit dem sich alle Probleme lösen lassen. Das Thema hat viele Facetten, sie reichen vom Artenschutz über Abstandsregeln, Flächenverfügbarkeit bis hin zur Verfahrensdauer. Die nächste Bundesregierung wird viel politisches Kapital darauf verwenden müssen, hier Hemmnisse aus dem Weg zu räumen. Gerichtsverfahren müssen weiter gestrafft, Einspruchsrechte kritisch geprüft werden. Es ist zwar in den vergangenen Jahren schon einiges geschehen, aber es reicht nicht aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren schon zu Beginn ihrer Regierungszeit als vordringliches Ziel erkannt. Leider kann man nicht sagen, dass sich seitdem dramatisch viel verbessert hat.

Wie kommt man beim Netzausbau voran?
Kuhlmann: Das ist eine große, komplizierte Aufgabe. Bei den Verteilnetzen verlagert sich die Aufgabe zunehmend vom ländlichen Raum in die Städte. Bei den Übertragungsnetzen sehen wir in unserer Studie, dass das, was aktuell bis 2035 geplant ist, plus 2700 weiterer Kilometer schon im Jahr 2030 fertig sein muss.
Grimm: Das ist richtig. Es geht kein Weg an einem schnelleren Netzausbau vorbei, übrigens auch mit Blick auf den Wasserstoffbedarf. Die neue Regierung muss die Netzplanungen anpassen, sodass klimaneutraler Wasserstoff an den Standorten der Unternehmen zur Verfügung stehen kann, wenn klimaneutral produziert werden soll. Allerdings ist die Verengung auf grünen Wasserstoff vor allem am Anfang der Transformation der Wirtschaft nicht hilfreich.

Warum?
Grimm: Eine ausreichende Produktion von grünem Wasserstoff wird häufig nicht werksnah möglich sein. Und der Import von grünem Wasserstoff wird zunächst auch nicht ausreichen. Deswegen brauchen wir gerade in der Übergangszeit Anlagen, die beispielsweise zunächst mit fossilem Gas oder blauem Wasserstoff betrieben werden. Später können sie dann auf grünen Wasserstoff umgestellt werden, um Emissionen weiter zu mindern. Eine solche Flexibilität würde die Transformation sehr viel schneller und billiger machen. Wenn wir von vornherein nur auf grünen Wasserstoff setzen und den für die energieintensive Industrie reservieren, vergeben wir viele industriepolitische Chancen.

Sind Klimaschutzverträge das entscheidende Instrument, um der Industrie auf dem Transformationspfad zu helfen?
Grimm: Das kann an der ein oder anderen Stelle notwendig sein. Aber ich warne davor, Klimaschutzverträge breit einzusetzen. Erstens wird es unglaublich teuer, und zweitens sind sie alles andere als eine marktwirtschaftliche Lösung. Es wäre besser, über eine Reform der Abgaben und Umlagen bei der Energiebepreisung und eine Anhebung der CO2-Preise ein attraktives Umfeld für privatwirtschaftliche Investitionen zu schaffen. So würden dort Investitionen ausgelöst, wo die Industrie Zukunftsmärkte sieht. Wir müssen uns eingestehen, dass wir unsere Industrie nicht in der heutigen Form erhalten können. Wir stehen vor einer tiefgreifenden Transformation. Natürlich verlagern sich einige Wertschöpfungsketten ins Ausland. Aber es wird auch neue industrielle Wertschöpfung entstehen, das dürfen wir nicht durch einen Fokus auf die Bestandswahrung einbremsen.

Herr Kuhlmann, stimmen Sie dem zu oder setzen Sie auf den Erhalt der vorhandenen Wertschöpfungsketten?
Na ja, wenn wir wollen, dass sich überall auf der Welt alles ändert, dann können wir nicht so tun, als würde bei uns alles so bleiben, wie es ist. Ich sehe es ähnlich wie Veronika Grimm: Klimaverträge sind O.K., aber wir können auch nicht jede Pommesbude, die klimaneutral werden will, mit einem Klimaschutzvertrag ausstatten. Basis unserer Überlegungen ist dennoch, dass wir die industrielle Substanz in Deutschland erhalten können und wollen.

Sind die Europäer beim Klimaschutz zu ambitioniert, die USA und China dagegen zu lasch?
Grimm: Es muss im Interesse der Weltgemeinschaft sein, beim Klimaschutz voranzukommen. Ein gemeinsamer CO2-Preis erscheint derzeit nicht machbar, aber vielleicht könnte man versuchen, mit China und den USA gemeinsame Reduktionspfade etwa in der Schwerindustrie zu vereinbaren. Unilateral vorzugehen, ist keine gute Idee. Ich halte deswegen den CO2-Grenzausgleich nicht für den besten Weg, da sind schon aus atmosphärischen Gründen Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten.

Frau Grimm, Herr Kuhlmann, vielen Dank für das Interview.

Mehr: So gelingt der Aufbruch zur Klimaneutralität: Pflichtlektüre für die Sondierungsteams

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