„Der Tod treibt seine Spiele mit uns“

Düsseldorf Als die russischen Panzer vor über 40 Tagen die Grenze zur Ukraine überqueren, verändert sich schlagartig auch das Leben von Tatiana Chontoroh und das ihres Mannes. Die 28-jährige IT-Designerin beginnt zunächst, in Kiew im Freiwilligendienst zu arbeiten. Doch weil sie ein Kind erwartet, flüchtet sie schließlich aus dem Grauen des Krieges nach Dortmund, zu ihrer besten Freundin Anna.

Von Deutschland aus hilft Chontoroh, Medizintransporte in Frontgebiete zu organisieren. Dann erreichen sie Bilder via Internet – vom Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk, Bilder der Kriegsverbrechen aus Butscha und anderen Orten. Sie schreibt: „Sie töten Kinder, vergewaltigen junge Mädchen und ermorden sie? Sind das etwa die angeblichen Nationalisten, die die russischen Soldaten da umbringen?“

In Deutschland fühlt sie sich fremd. All der Schrecken in ihrer Heimat und die unsicheren Prognosen zerbrächen sie, schildert sie ihr Empfinden.

Tatiana Chontoroh erzählt ihre Geschichte, weil „ich möchte, dass Menschen auf der ganzen Welt unser Leben, unseren Schmerz und unseren Kampf kennenlernen“. Das Handelsblatt dokumentiert Einträge aus ihrem Tagebuch.

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9. bis 11. April: Fremd in einem fremden Land

All der Schrecken in meiner Heimat und die unsicheren Prognosen zerbrechen mich. Viele meinen, ich müsste glücklich sein, weil mein Kind und ich an einem sicheren Ort sind – aber ich kann kein Glück mehr empfinden. Deutschland und seine Menschen sind so gut zu mir. Ich aber fühle mich nicht zu Hause: Gefühle, Gerüche, Regeln, die Kultur, alles ist anders.

Wie gern würde ich die Vorfreude auf unser Kind mit meinem Mann teilen, ihn umarmen, wenn ich einsam bin. Stattdessen sehe ich ihn nur auf einem Bildschirm. Zu viele meiner Lieben und zu viele Orte musste ich zurücklassen. Nun fühle ich mich schuldig, wegen der Dunkelheit in mir. Selbst ernannte Retter ziehen in meiner Heimat umher und bringen den Tod – ich aber bin in Sicherheit.

8. April: Keine Worte mehr

All der Schrecken in meiner Heimat und die unsicheren Prognosen zerbrechen mich. Tatiana Chontoroh

Mir fehlt es an jeglicher Kraft. Der Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk war voller Flüchtlinge, als er heute von Raketen getroffen wurde. Hunderte Menschen, Frauen und Kinder hatten dort auf einen rettenden Zug gewartet, wurden schwer verletzt oder getötet. „Das ist das grenzenlose Böse“, twitterte unser Präsident – wie wahr. „Für unsere Kinder“ hatte in russischer Sprache auf den Überresten einer Rakete gestanden. Was für ein Zynismus!

7. April: Wieder Leben in Kiew

Parkende Autos vor dem Bahnhof in Kramatorsk

Ausgebrannte Blechhaufen bleiben nach dem Raketenangriff zurück. Unzählige Tote und Verletzte – darunter viele Frauen und Kinder – liegen in und um den Bahnhof.


(Foto: action press)

Stark erkältet genieße ich in Deutschland die vielen verschiedenen Sorten Tee mit Honig. Kiew füllt sich nach dem Abzug der Kremltruppen wieder mit Leben, erzählt mein Mann. Es ist schwer, nicht dabei zu sein. Aber unsere Regierung bat uns geduldig zu sein, bis wir wissen, was die Russen vorhaben. In der Ostukraine treten verzweifelte Menschen die Flucht Richtung Westen an.

6. April: Leben im Horrorfilm

Hochzeit in Kiew

Am siebten April heiratet dieses Paar der ukrainischen Streitkräfte in der Hauptstadt.


(Foto: action press)

Heute kontaktiert mich meine Ex-Kollegin Olia, die in der Dauerschleife eines Horrorfilms gefangen ist. Vor etwas über sieben Jahren floh sie nach der russischen Invasion aus dem ostukrainischen Luhansk. Wenig später folgte ihr Mann, schließlich auch ihr Vater, der zuvor schreckliche Tage in russischer Gefangenschaft erlebt hatte. Dann versuchten sie, sich in Dnipro ein neues Leben aufzubauen, während ihre Eltern nach Charkiw gingen. Inzwischen besteht Charkiw in Teilgebieten nur noch aus Trümmern und Scherben. Wieder flohen die Eltern – diesmal zu Olia nach Dnipro, wo erneut Todesangst auf Raketenbeschuss folgte.

Jetzt sind Olia und ihre Mutter in Deutschland angekommen, wie ich heute erfahre. Derweil sitzt der Schwiegervater meiner früheren Kollegin versteckt in seinem eigenen Haus. Er war damals mit seiner Frau in Luhansk geblieben, um noch ältere Menschen zu versorgen. Nun kann er nicht mehr auf die Straße, weil die Russen dort ukrainische Männer zwangsverpflichten, um sie für die russische Armee kämpfen zu lassen… wie viel Leid kann ein Mensch ertragen?

3. bis 5. April: Sie ermorden Kinder

Keller in Charkiw

Die Menschen suchen Schutz vor den russischen Angriffen in ihren Kellerräumen.

(Foto: dpa)

Grauenhafte Kriegsverbrechen: Meine Nächte sind schlaflos, die Tage schwarz. Mein Verstand sucht nach Erklärung. Sie töten Kinder, vergewaltigen junge Mädchen und ermorden sie? Sind das etwa die angeblichen Nationalisten, die die russischen Soldaten da umbringen? Wer kann, wer will das verstehen? In den Nachrichten sehe ich Autos, auf deren Motorhaube die russische Fahne prangt. Sie fahren durch Berlin. Mit jeder Faser meines Wesens glaube ich an Demokratie und Meinungsfreiheit. Aber nach Butscha, Irpin und Hostomel gibt es prorussische Demonstrationen?

>> Lesen Sie auch: Der Krieg verändert die Welt erneut – Sieben Thesen zu den langfristigen Folgen des Ukraine-Konflikts

Ich denke an unsere Freiwilligen, die mir erzählten, dass sie nach dem Rückzug der russischen Armee aus einigen Gebieten dazu angehalten wurden, dorthin keine humanitäre Hilfe für Babys und Kleinkinder zu bringen. Es gebe keinen Bedarf mehr. Niemand der Jüngsten habe überlebt.

1. und 2. April: Bilder des Grauens

Ukrainischer Soldat in Butscha

Die Stadt nahe Kiew wird zum Symbol für die unvorstellbaren Kriegsverbrechen der russischen Armee an Zivilisten.


(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Wir gönnen uns etwas Ruhe und verfolgen im Fernsehen die deutschen Nachrichten über Inflation und den Anstieg der Preise. Ich verstehe, dass die Entwicklung viele Menschen hart trifft. Aber es macht mir Mut, wenn ich auch höre, dass viele bereit sind, sich den Herausforderungen und Veränderungen zu stellen, um den schrecklichen Krieg in meiner Heimat zu beenden.

Dann erreichen mich über das Internet die ersten unerträglich schrecklichen Bilder aus Butscha nahe Kiew: hilflos ermordete Männer, Frauen und Kinder. Es schmerzt zu sehr.

30. März: Unsere Heldin

Um 6:30 Uhr erreicht mich eine SMS meiner Ex-Kollegin und Freundin, die Medikamente – wie vor zwei Tagen geschildert – weiter in Richtung der Kampflinien bringen will: Um ein Uhr nachts war sie in Dnipro angekommen, machte sich dann um 7:30 Uhr bereits auf den Weg in die nächste Stadt Richtung Donezk. Von diesem Moment an war sie meine Heldin.

Ab zehn Uhr waren alle an der Aktion Beteiligten über ihre Handys ständig miteinander in Kontakt. Zu behaupten, wir seien nervös gewesen, wäre untertrieben. Wir beschworen gedanklich einen Schutzschild herbei, so kam es mir vor, für jeden, der die Medikamente entgegennahm, um damit ein Stück weiter Richtung Front zu fahren.

Es war wie beim Staffellauf – nur leider kein sportlicher Wettkampf, sondern ein lebensgefährlicher. Was für eine Erleichterung, als wir gegen 15.00 Uhr erfuhren, dass alle in Sicherheit und die Medikamente angekommen waren.

Zur gleichen Zeit wurden auf dem Weg nach Tschernihiw Autos vom russischen Militär beschossen, einige Freiwillige starben. Das könnte mein Mann sein, dachte ich. Auch er hatte Waren dorthin liefern wollen. Der Tod treibt weiter seine Spielchen mit uns.

29. März: Deutsche Bürokratie

Bewohnerin von Butscha

Nach dem Abzug der russischen Armee bekommt diese Bewohnerin von Freiwilligen die ersten Lebensmittel überreicht.

(Foto: dpa)

Was macht ein Elfjähriger in einem fremden Land ohne Freunde und Schule? Wir machen uns Sorgen um Annas kleinen Cousin. Zum Glück spricht Anna fließend Deutsch und kann das Integrationsamt anrufen.

Sie fragt, ob es nicht möglich wäre, ihn in die Schule zu schicken. Seit Anfang März ist mein Cousin in Dortmund registriert. Doch wie wir erfahren, brauchen wir zunächst noch Dokumente des Ausländeramts, die sie uns zuschicken wollen. Und das dürfte wohl mindestens noch einen Monat dauern.

Zudem macht man uns keine große Hoffnung: In den Schulen wird es wohl nur wenig Plätze für Flüchtlingskinder geben. So kann uns niemand sagen, ob er Ende April eine Chance auf einen Schulplatz hat.

>> Lesen Sie dazu auch: Bund kommt Ländern bei Flüchtlingskosten weit entgegen

Ganz ähnlich ergeht es uns, als wir uns nach Deutschunterricht erkundigen. Annas Mutter, Tante und ich verstehen die Notwendigkeit, die deutsche Sprache zu erlernen. Aber auch dafür brauchen wir die Dokumente des Sozialamts, auf die wir noch viele Wochen warten müssen. Wollten wir zum Arzt gehen, müssten wir uns erneut in die unendliche Schlange vorbei am rot-weißen Absperrband des Sozialamts einreihen. Wir müssten einen weiteren Schein dort abholen. Ich verschiebe mein Vorhaben erst einmal.

28. März: Raketensplitter

Flüchtlinge in Dortmund

Zur Registrierung stehen zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine vor einer Außenstelle des Dortmunder Sozialamtes an.


(Foto: IMAGO/Cord)

Was für Nachrichten am frühen Morgen. Um das Haus meines ältesten Bruders herum ist alles zerstört. Ich war so erleichtert, als er mir auf meine SMS eine Antwort schickte: „Hey, alles in Ordnung“. War es Glück, oder wie soll man es nennen, dass sein Haus dem Angriff standhielt?

Gegen Mittag bekommt Anna, die Kontakt zu vielen Freiwilligen in der Ukraine hält, eine Anfrage von einer jungen Frau aus der östlichen Ukraine, der Region Donezk: Sie benötigen dringend Medikamente, denn humanitäre Hilfe erreicht sie nicht. Die Kampflinie verläuft viel zu nah, und sie berichtet, dass sich keine Hilfsorganisation in das Gebiet vorwage. So stehen wir vor einer riesigen Aufgabe: Wer könnte die Medikamente so nah wie möglich heranfahren, und wo könnten Medikamente gekauft werden?

Raketensplitter

Tanias ältester Bruder zeigt seiner Schwester den Grund dafür, warum um sein Haus herum alles zerstört ist.


(Foto: Tania Chontoroh)

Es ist wohl Zufall, dass eine meiner Ex-Kolleginnen und gute Freundin just zu dieser Zeit unterwegs ist, um Medikamente in die Stadt Dnipro zu bringen, die nur etwas über vier Stunden von Donezk entfernt liegt. Sie erklärt sich bereit auch weiter zu fahren, braucht dafür aber Medikamente.

Wir kontaktieren jeden, den wir kennen, und stoßen schließlich auf eine frühere Mitkommilitonin, die inzwischen in Dnipro wohnt. Sie arbeitet auch als Freiwillige und verspricht, Medikamente aufzutreiben. Unsere Aufgaben für heute sind erledigt.

27. März: Schuld und Scham

Medikamente

Von Deutschland aus gehen Medikamente an Hilfsbedürftige in Gebiete nahe der Kampflinien.


(Foto: Tania Chontoroh)

Wir haben Gäste, Annas Schwiegereltern sind zu Besuch. Es war, wie frische Luft zu atmen. Das erste Mal vergesse ich für einige Stunden die Nachrichtenlage aus meiner Heimat. Sie haben uns in einigen Taschen Kleidung mitgebracht, denn wir konnten auf der Flucht ja kaum etwas mitnehmen. Ich bin so dankbar für ihre Hilfsbereitschaft und entdecke gleichzeitig ein anderes Gefühl – Schuld und Scham dafür, dass ich derzeit so sicher leben darf, während in meinem Heimatland Menschen sterben.

Auch meine Schwiegereltern meldeten sich heute mit einem Videoanruf. Endlich haben sie wieder eine Internetverbindung – mit einem Haken: Selbst einfache Telefonate funktionieren nur genau an einem Ort – mitten auf der Straße.

26. März: Angriff auf Lwiw

Telefonieren auf der Straße

Nur genau an dieser Stelle, mitten auf der Straße, können Tanias Schwiegereltern telefonieren.


(Foto: Tania Chontoroh)

Endlich eine gute Nachricht. Unsere Medikamente sind in Luzk angekommen!!! Einige Freiwillige, zu denen Anna vorab Kontakt aufgenommen hatte, schicken Beweisfotos. Sie halten unsere Medizin in Händen und berichten, wen sie alles versorgen können. Auch kranke und verletzte Soldaten gehören dazu.

Der Mann meiner Freundin aus Kiew, dessen Wohnungsfenster bei einem Raketenangriff am 23. März zerbarsten, ist nun auch nach Lwiw geflüchtet. Aber die traumatischen Erlebnisse gehen weiter.

An diesem Tag schlagen Raketen in der westukrainischen Stadt ein, und dicke, schwarze Rauchwolken steigen über der Altstadt auf. Viele Menschen sind nach Lwiw geflüchtet, weil sie dachten, der Ort wäre sicher – aber nicht mehr an diesem Tag. Rechtzeitig erreichten meine Freunde zum Glück einen Luftschutzbunker, während die russische Armee ihre todbringenden Geschosse vom Meer aus abschoss. Es ist, als sollten wir uns nirgendwo mehr sicher fühlen. Jede Ecke unseres Landes soll zerstört werden.

24. und 25. März. Leben als Zuschauer

Angriff auf ein Tanklager in Lwiw

Eine schwarze Rauchwolke steht über der Stadt.


(Foto: action press)

Am heutigen Sonntag ist der Geburtstag meiner besten Freundin, die mich in ihr Haus aufgenommen hat, aber keiner von uns möchte feiern. Wir lesen Nachrichten, diskutieren, machen uns Sorgen. Der einzige Unterschied: Es gibt Kuchen dazu.

Montags gehe ich nach meiner Programmierarbeit mit Anna zum ersten Mal in Dortmund spazieren. Wir sind Zuschauer des normalen Lebens um uns herum, gehören nicht dazu.

Mein Mann erzählt mir, dass er heute Lebensmittel und Hygieneartikel für die Stadt Tschernihiw kauft, in der es sehr schlimm ist: schwere Angriffe auf Wohngebiete, kein Strom, kein fließendes Wasser. Die Stadt am Ufer des Flusses Desna war eines der ersten Ziele jener Truppenverbände gewesen, die von Belarus aus in meine Heimat eindrangen.

23. März: Tödliche Scherben

Tanias neue Wohngemeinschaft in Dortmund

Freundin Anna und ihr Mann haben Tatiana Chontoroh, Annas Mutter und Tante sowie ihren 11-jährigen Cousin aufgenommen.


(Foto: Tania Chontoroh)

Ich setze meine Bemühungen fort, wieder meiner Arbeit nachzugehen, bis am Abend ein Flugzeug tief und lautstark über unser Haus fliegt. Unmittelbar gerate ich in Panik: Wohin kann ich mich in Sicherheit bringen? Doch während ich mich selbst zur Ordnung rufe und langsam wieder ruhiger atme, schießt die russische Armee in Kiew eine Rakete ab, die so niedrig fliegt, dass sämtliche Fenster im Haus einer guten Freundin explosiv zerbersten. Dass diese beiden Ereignisse fast zeitgleich geschehen, werde ich erst später erfahren.

Meine Freundin selbst ist schon vor einer Weile nach Lwiw geflüchtet und wird mir von dort von ihrem Mann in Kiew berichten, der zum Glück während des dortigen Raketenangriffs auf der Straße war, wo er sich flach auf den Boden warf. Derweil flogen messerscharfe Scherben durch ihre gemeinsame Wohnung. Hätte ihr Mann schlafend im Bett gelegen . . . Weder meine Freundin noch ich möchten diesen Satz beenden.

22. März: Helfer in Gefahr

Raketenangriff

In der Wohnung von Tanias Freunden werden die messerscharfen Splitter der Fenster zu gefährlichen Waffen.


(Foto: Tania Chontoroh)

Aus kurzen, unruhigen Nächten wecken mich jeden Morgen meine Ängste: Wo schlugen diesmal die Raketen ein? Leben alle meine Lieben noch? Jeder in unserer kleinen Wohngemeinschaft, in der neben Anna und ihrem Mann inzwischen auch ihre geflüchtete Mutter, Tante und ihr elfjähriger Cousin leben, kontaktiert morgens alle erreichbaren Freunde und Familienangehörigen in der Ukraine. Später dann am Frühstückstisch sammeln wir unsere Informationen, puzzeln uns den Frontverlauf zusammen.

An diesem Dienstag um sechs Uhr brechen wir mit voll beladenem Auto Richtung Bielefeld auf. Anna hat zusammen mit anderen Freiwilligen Medikamente gesammelt: Schmerzmittel, Verbandsmaterial und chirurgisches Einmalbesteck. Wir packen es um in den großen Kofferraum eines Ukrainers, der die gefährliche Fahrt in die nordwestliche Großstadt Luzk auf sich nehmen will, wo über 210.00 Menschen leben. Schon lange gibt es dort keine Medikamente mehr.

Auch mein Mann liefert heute als Freiwilliger wieder Medikamente und Nahrung in den Randbezirken von Kiew aus. Während er auslädt, fallen Granaten auf die Straße und treffen benachbarte Gebäude. Später erzählt er mir, dass er am ganzen Körper zu zittern beginnt. Aber gemeinsam mit den anderen Freiwilligen verlädt er weiter die Pakete von einem Auto zum anderen – nur schneller als zuvor. Ich bange um sein Leben und um unsere gemeinsame Zukunft. Aber ich respektiere seine Entscheidung, sich auch in Gefahr zu begeben, um Menschen zu helfen.

16. bis 21. März: Dortmund – das normale Leben ist fremd

Soldaten bewachen Kiews Bürgermeister und seinen Bruder

Einen Tag nach den Angriffen vom 22.März, geben Vitali Klitschko (r), Bürgermeister von Kiew und sein Bruder, Wladimir Klitschko, eine Pressekonferenz und bezeichnen den russischen Angriff auf ihr Land als Völkermord.

(Foto: dpa)

Der Flug von Kattowitz nach Dortmund ist wie eine Reise in ein Leben, in das ich nicht mehr passe – Menschen plaudern, diskutieren über Filme, spielen auf ihren Handys. Fast vergesse ich, wie alles auf einem Flughafen funktioniert, so fremd fühle ich mich. Mit unterdrückten Tränen in den Augen, einem Rucksack und einem Telefon voller Nachrichten sitze ich neben all diesen Menschen auf meinem Flugzeugsitz. Dann, endlich in Deutschland angekommen, falle ich meiner Freundin in die Arme.

Nun bin ich schon einige Tage in Dortmund und ordnungsgemäß als Flüchtling erfasst. Langsam höre ich auf, in einfachen Alltagsgeräuschen wie einem vorbeifahrenden Notarztwagen einen Luftalarm zu hören und panisch zu reagieren. Aber wenn ich allein bin, weine ich, kann meine Tränen nicht stoppen. Ich bin so dankbar, dass ich in Deutschland sein darf, bin dankbar dafür, bei meiner Freundin und ihrem Mann zu sein. Aber die Nachrichten aus der Ukraine lassen mich nicht zur Ruhe kommen.

Eines habe ich verstanden. Der Spruch „Es kann nicht mehr schlimmer kommen“ stimmt nicht. Denn es „kommt immer noch schlimmer“. Jeden Morgen öffne ich meine Augen und lese mit zitternden Händen die Nachrichten meiner Liebsten auf dem Handy. Sie alle können jederzeit in diesem Krieg ihr Leben verlieren. Und ich sitze hilflos da und hoffe und bete.

Deutschland ist ein schönes Land, aber ich will zurück nach Kiew, sobald das möglich ist. Bis dahin werde ich versuchen, auch von hier aus meinem Land nützlich zu sein und den Menschen zu helfen.

Flüchtlinge in Dortmund

An einer Außenstelle des Dortmunder Sozialamtes lassen sich ukrainische Flüchtlinge registrieren.


(Foto: IMAGO/Cord)

15. März: Angriffe auf Wohnhäuser

Eine Stunde vor Mitternacht erreicht unser Bus die polnische Stadt Kattowitz. Am kommenden Morgen geht von hier aus mein Flieger nach Deutschland. Zuvor aber darf ich mich einige Stunden in einem Hotel in Flughafennähe ausruhen, das meine beste Freundin für mich gebucht hat. 

Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrem Mann in Dortmund, besucht dort auch die Uni. Ich bin auf dem Weg zu ihr und unendlich dankbar dafür, dass sie mich neben ihrer Mutter, Tante und Neffen bei sich aufnehmen wird. Ich mache mir bewusst, dass ich in dieser Nacht keine Luftschutzwarnungen hören werde, und beobachte das nächtliche Kattowitz: Menschen spazieren über die Straßen, fahren Fahrrad, lachen, Musik tönt von den Kneipen auf den Gehsteig …

Ich kann nicht glauben, dass auch wir noch vor wenigen Wochen genau ein solches Leben geführt haben. In dieser Nacht schlafe ich nicht auf Decken in unserem Flur, sondern wieder in einem Bett. Gott sei Dank bin ich nicht mittellos, brauche für meinen Job nur einen Laptop und eine Internetverbindung, denke ich.

Am Morgen holt mich mit den ersten Nachrichten das Entsetzen wieder ein: Ein 16-stöckiges Wohnhaus in Kiews Stadtteil Swjatoschyn wurde von russischen Raketen getroffen ebenso wie ein zehnstöckiges Gebäude im Stadtteil Podil. Es gibt viele zivile Opfer, Tote und Verletzte. Die ruhigen Tage in Kiew sind endgültig vorbei. Die russische Offensive rückt näher ans Stadtzentrum heran, und ich habe Angst um all die Menschen, die sich so tapfer behaupten. Gedanken zermürben mich: Ich habe meinen Mann und mein Land in der Not verlassen …

14. März: Weinende Kinder, schreiende Katzen

Kiew

Schwere Raketenanschläge zerstören nicht nur Gebäude, sondern töten wohl auch acht weitere Zivilisten. Es gibt zahlreiche Verletzte.


(Foto: action press)

Um 6:20 Uhr steigen wir in Chmelnyzkij aus dem Zug. Die Stadt liegt an den wichtigen Eisenbahnhauptstrecken nach Lwiw, Odessa und Kiew. Auch die großen Fernstraßen kreuzen sich hier. Bis nach dem nordöstlich gelegenen Kiew beträgt die Luftlinie 278 Kilometer, nach Lwiw sind es 217 Kilometer. Wir erfahren, dass es für uns am späten Nachmittag mit dem Bus weitergehen soll.

Nach vier Stunden am Bahnhof sind wir so durchgefroren, dass wir in ein Café gehen. Aufheulende Sirenen versetzen uns mit einem Mal in Alarmstimmung, und wir laufen zu den Luftschutzbunkern der Schule. Zum Glück ist es ein Fehlalarm.

Um 16:30 Uhr steigen wir in unseren Bus. Viele kleine Kinder sitzen ernst und erschöpft neben ihren Eltern, einige weinen heftig. Auch Katzen, die in drei großen Boxen mitten im Gedränge stehen, beklagen sich lautstark. An verschiedenen Posten kontrollieren Soldaten und Polizisten unsere Papiere. Um 21:16 Uhr erreichen wir die ukrainisch-polnische Grenze in Krakovets und reihen uns in eine Endlosschlange ein.

Von nun an wird es einen Tag dauern, bis wir Polen erreichen. Denn unser Fortkommen ist streng getaktet: eine Buslänge pro Stunde. Freiwillige versorgen uns mit Suppe, die wir dankbar annehmen. Es fällt schwer, so viele Stunden zu sitzen, ohne sich waschen zu können, und doch wissen wir, wie privilegiert wir sind. 

Wer aus dem Fenster sieht, blickt auf die unübersichtliche Reihe all derjenigen, die zu Fuß die Grenze überqueren müssen. Frauen und Kinder frieren erschöpft in der kalten Nacht mit eisigen Temperaturen knapp unter null Grad.

14. März, kurz nach Mitternacht: Zugfahrt ohne Licht

Grenzübergang bei Krakovets

Ukrainische Flüchtlinge, Kinder und Frauen stehen der Kälte ausgeliefert in endlosen Schlangen.


(Foto: Getty Images)

Der Zug rattert gleichmäßig, und ich liege im letzten Waggon auf einer Bank in der Nähe einer Heizung. Es ist warm, aber stockdunkel. Angst und Abschiedsschmerz reisen mit. Noch am Tag zuvor bin ich um 23:46 Uhr am Hauptbahnhof in Kiew eingestiegen – ohne dichtes Gedränge wie in den Anfangstagen des Krieges. Jetzt befördert der Zug uns Passagiere kostenlos in Richtung Grenze.

Vor allem Menschen aus der Nähe von Kiew reisen mit uns, aber auch einige wenige, die aus dem umkämpften Charkiw geflohen sind. Aus Sicherheitsgründen fährt der Zug ohne Licht, und auch im Innern der Waggons darf keine noch so winzige Lichtquelle die Dunkelheit erhellen.

Erst später erfahre ich, dass die Russen den Nordwesten meiner Stadt unter Artilleriebeschuss genommen haben. Die ruhigen Tage in der Hauptstadt gehören der Vergangenheit an.

13. März: Schwerer Abschied

Wie betäubt lehne ich an den kalten Kacheln unseres Badezimmers. Das Ergebnis des Tests ist eindeutig: Ich bin schwanger. Ja, mein Mann und ich hatten uns aus ganzem Herzen ein weiteres Kind gewünscht. Aber jetzt ist Krieg … Lautstark dröhnt das Wort „schwanger“ immer wieder durch meinen Kopf, und ich ahne, worauf mein Mann bestehen wird: ihn und mein Land sofort zu verlassen – beides ist unvorstellbar für mich. Aber ich habe keine wirkliche Wahl. Er hat verdient, dass ich ehrlich zu ihm bin.

Es folgen Stunden im Zeitraffer: Wir suchen einen Arzt, der mich untersucht und das Testergebnis bestätigt, dann packen wir meinen Rucksack, suchen Dokumente zusammen, liegen uns in den Armen, weinen vor Glück und Kummer.

Jetzt erst verstehe ich wirklich, warum die Menschen an unseren Bahnhöfen weinen, fühle, was sie fühlen. Werde ich meinen Mann je wiedersehen? Wird unser Kind seinen großartigen Vater kennenlernen dürfen? Mein kleiner Hund und meine Katze drängen sich an mich. Dann kommt der Abschied.

Mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem winzigen Koffer verlasse ich unsere Wohnung. Ich möchte schon jetzt umkehren.

12. März: Neue Einschusslöcher

Wir sind viel unterwegs. Es wird immer schwieriger, Medikamente und Nahrung aufzutreiben, um damit Bedürftigen zu helfen. Auf dem Heimweg nutzen wir heute die Chance, Geld abzuheben. In den Fenstern der Bank entdecken wir viele neue Einschusslöcher. Dennoch ist der Tag erstaunlich ruhig. Mit Schmerz verfolgen wir am Abend die aktuellen Nachrichten aus Mariupol

11. März: Unser Humor ist scharf und dunkel

Warteschlange vor einer Apotheke in Kiew

Es ist der 16. Tag des Krieges, und wir Ukrainer nehmen im Zentrum von Kiew unser „normales Leben“ auf: Wir arbeiten und leisten Freiwilligendienste. Vielleicht klingt es merkwürdig, aber wir scherzen auch wieder. Es ist ein scharfer, sehr dunkler Humor.

Wir hören in der Ferne immer unsere Artillerie – unangenehm, aber fast schon normal. Ein kleiner Junge fuhr heute auf seinem Fahrrad sichtlich glücklich durch unsere leeren Straßen. Der Himmel erstrahlte in makellosem Blau, die Temperaturen sind eisig.

Seit vier Tagen ist es sonderbar ruhig in der Stadt. Ein wenig wachen wir aus unserem Albtraum auf. Es gibt immer noch Menschen, die fliehen, aber nicht mehr so viele. Mittags dann oft Luftschutzwarnungen: Routiniert packen wir unsere Laptops, sitzen in unserem Flur, arbeiten, beten und hoffen. Unsere Soldaten werden die Rakete abfangen … müssen sie abfangen … Den Glauben daran dürfen wir nicht verlieren.

10. März 2022: Unsere Eltern in Gefahr

Seit der Krieg begonnen hat, haben wir die Tage und Stunden nicht mehr gezählt. Es fühlt sich an, als wären schon Monate vergangen, und gleichzeitig, als ob das Leben stehen geblieben wäre. Vielleicht liegt es an dem isolierten und eingeschränkten Leben, das wir führen. Oder an unserer Angst um unsere Liebsten.

Unsere Eltern leben dort, wo die russischen Soldaten bereits Gebiete erobert haben. Es gibt so gut wie kein Benzin mehr, Lebensmittel und Medikamente sind knapp. Meine Mutter ist den ganzen Tag unterwegs, um Essen aufzutreiben und meiner 76 Jahre alten Großmutter zu helfen.

Wir machen uns große Sorgen, bitten sie immer wieder, zu Hause zu bleiben. Noch sind die russischen Soldaten nicht in ihrer Stadt. Aber was, wenn sie kommen? Wir haben Angst, sehen Videos und Nachrichten von Gräueltaten, doch wir müssen uns zwingen, nicht an das Schlimmste zu denken.

Kiew

Mehr als zwei Wochen nach dem russischen Angriff herrscht eine trügerische Stille. Luftalarm gibt es trotzdem immer wieder.

(Foto: dpa)

Heute haben wir Lebensmittel in eine 30 Kilometer entfernte Stadt in ein Obdachlosen- und Behindertenheim gebracht, holten dann ein Mädchen mit schweren Koffern ab, das ans rechte Flussufer wollte. Wer über die Brücke muss, steht unendliche Stunden im Stau. Wir fahren vorbei an Absperrpfosten, zerstörten und verunglückten Autos – ein inzwischen gewohntes Bild.

Unsere Freiwilligendienste sind gut organisiert, unsere Stadt ist perfekt vernetzt. Kiew ist wie ein großer Organismus, der zusammenarbeitet.

Dennoch gibt es auch düstere Gedanken: Was ist, wenn die momentane Stille nur trügerisch ist? Vielleicht steht uns das Schlimmste noch bevor. Wieder heulen die Sirenen auf. Das gehört zu unserem Leben.

9. März: Wer führt Krieg gegen Frauen und Kinder?

Brücke in Kiew

Wer ans andere Ufer möchte, muss sich einreihen in die Autoschlange und stundenlang warten.


(Foto: action press)

Mein Herz bricht vor Schmerz und Angst. Ich fühle mich hilflos. In Mariupol wurden ein Geburtshaus und ein Kinderkrankenhaus angegriffen. Was haben die Mütter und Kinder den Soldaten getan? Wer führt Krieg gegen Frauen und Kinder?

Heute hilft uns kein Handy weiter: kein Klingeln, keine Nachricht. Wir vermissen viele Familienangehörige und Freunde, die mit kleinen Kindern aus verschiedenen Städten der Ukraine evakuiert wurden. Nun haben wir keinen Kontakt mehr. Wir beten, dass ihre Handys nicht geladen sind, dass sie sie vielleicht einfach nur verloren haben …

Der Tag erdrückt mich. Ich bin traurig, finde keine Worte mehr …

8. März: Blumensträuße im Krieg

Geburtsklinik in Mariupol

Ein Freiwilliger geht durch vom Angriff beschädigten Räume des Hospitals.

(Foto: dpa)

Bunte Tulpen mitten im Krieg. Auf unseren Straßen gibt es Männer mit Frühlingsblumen in ihren Händen. Was für ein verwirrendes Bild. Am internationalen Frauentag ist das bei uns in der Ukraine üblich. Aber was ist normal im Krieg? Es geht ans Herz, unsere Männer so zu sehen …

Wir versorgen einige sehr alte und schwache Menschen mit dringend benötigten Lebensmitteln. Wer nicht mehr gut zu Fuß ist, hat es in diesen Tagen sehr schwer, obwohl ein Heer an Freiwilligen und Hilfsorganisationen unterwegs ist.

Das Telefon klingelt, und die Krankenhausrealität hat uns wieder. Das kleine Mädchen, das so lange in der improvisierten Krankenstation im Bunker neben meinem Sohn gelegen hat, ist in einem kritischen Zustand. Am Abend schaue ich mir die Fotos von meinem älteren Bruder an. Die Nacht naht, und er wird wie in den Tagen zuvor mit seinen Kindern, Nachbarn und deren Kindern in einem winzigen, eiskalten Kriechkeller schlafen. Ich hoffe, sie bleiben gesund und sicher – und wir auch.

7. März: Es spielen tatsächlich Kinder auf der Straße

Gegen sechs Uhr wachen wir auf: Fliegeralarm. Und wir hören seltsame und laute Geräusche, die wir nicht zuordnen können. Es klingt wie stürmischer Wind, dann folgen Schläge. Erst am Abend erfahren wir – es ist unsere eigene Luftabwehr, die sich so anhört.

Heute spielen zwischen den Hochhäusern im Hof Kinder, es sind nur vier. Aber Kinder auf der Straße! Das haben wir seit dem zweiten Kriegstag nicht mehr gesehen. Stundenweise ist die Situation in unserer Stadt etwas ruhiger geworden. Für uns wird es immer schwieriger im Freiwilligendienst, die hilfsbedürftigen Menschen auf unserer Liste zu versorgen. Bei beliebten Lebensmitteln wie Wasser, Brot, Müsli, Zucker, Fleisch oder Wurst sind die Regale meist leer.

Es ist überlebenswichtig, sich mit anderen auszutauschen: „Wo gibt es heute noch Waren?“ Die weiten Fahrten von Supermarkt zu Supermarkt füllen unsere Tage. Aber wir beklagen uns nicht. Die Situation in den kleinen Städten und Dörfern ist viel schlimmer. Auch unsere Eltern leben dort nur noch von dem, was sie im Sommer in ihrem Gemüsegarten geerntet und eingemacht haben.

Die Medikamentenversorgung wird spürbar schwieriger. In der Apotheke sagt man uns, dass die meisten Lagerhäuser wegen der russischen Soldaten nicht mehr zugänglich sind. Die Lager liegen meist am Stadtrand mitten im Kampfgebiet.

Dennoch versuchen wir, für unsere Soldaten aufzutreiben, was gebraucht wird. Ich bin stolz auf sie und hoffe, dass unsere Männer bald zu ihren Familien zurückkehren können, um ein Leben in einem freien Land zu führen. Ich hoffe, dann können wir diese schrecklichen Bilder von Zerstörung und Krieg vergessen.

6. März: Nein, wir fliehen nicht – noch nicht

Solidaritätsmarsch in Moldawien

In vielen Nachbarstaaten gingen Jung und Alt am Internationalen Frauentag auf die Straße, um den Frauen in der Ukraine auf diese Weise ihre Solidarität zu zeigen.

(Foto: dpa)

Das Leben geht weiter, und wir funktionieren. Die Nacht war schlaflos, aber relativ ruhig. Dennoch verlassen wir im Haus nicht mehr den Flur. Er ist der sicherste Ort.

Kiew steht am Morgen wieder Schlange vor den Geschäften. Kiew diskutiert. Es scheint, als ob mit einem Mal alle Menschen dieser Stadt Experten für Bomben, Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Militärfahrzeuge geworden sind.

Jeder Ukrainer hatte auf gute Nachrichten über die Evakuierung in Mariupol gewartet. Die kamen nicht. Stattdessen sehen wir Bilder von weiteren toten Zivilisten.

So schwindet das Mitleid. Was hat uns Putin für junge Soldaten geschickt, die seinen sinnlosen Krieg führen sollen? Oft sind sie völlig ausgehungert. Wir hatten Mitleid mit ihnen in den ersten Kriegstagen.

Doch nun sind Schmerz und Wut in unsere Herzen eingezogen. Die heutigen Ereignisse sind schockierend. Um 11 Uhr stürmen die Menschen den Supermarkt, vor dem auch wir gestanden haben. Sie kaufen ein, was sie greifen können, ohne an die zu denken, die draußen stehen und ebenfalls Lebensmittel brauchen. Das ist traurig.

Irpin am Stadtrand von Kiew

Ein ukrainischer Soldat trägt eine ältere Frau über einen Fluss bei Irpin. Die Einwohner hoffen auf einen humanitären Korridor.

(Foto: dpa)

Gestern haben wir Matvii für immer verloren. Aber wir können nicht richtig trauern. Um unsere Freiwilligen mit dem Nötigsten zu versorgen, sind wir heute mit dem Auto in der Nähe von Irpin gewesen, wo die Kämpfe ganz nahe sind.

Für Krieg gibt es keine Worte. Auch nicht für die Lautstärke, die ihn begleitet.

Zu Hause angekommen, sind wir dankbar für unseren Flur. Viele unserer Verwandten leben in ihren Tiefgaragen bei derzeit bis zu minus acht Grad. Freunde und Verwandte melden sich, fragen, ob wir jetzt Kiew verlassen, wo unser kleiner Sohn nicht mehr bei uns ist.

Doch es gibt zu viele Menschen, die uns brauchen. Wir glauben an Freiheit, an eine moderne Gesellschaft, an Europa. Wir bleiben in Kiew – zumindest erst einmal.

5. März: Unser Sohn ist tot

Schlange vor einem Supermarkt in Kiew

Zum ersten Mal müssen Tania und ihr Mann miterleben, wie die ersten Käufer des Tages alles an sich reißen und die Wartenden draußen leer ausgehen.

(Foto: dpa)

Wir leben einen weiteren Tag. Aber leben wir noch? In mir ist nur noch Leere. Um 9:20 Uhr ruft das Krankenhaus an, und eine fremde Männerstimme teilt uns mit: „Matvii – das ist doch ihr Kind? Er ist gestern Abend gestorben.“ Unser wunderbarer Sohn, unser starkes Kind ist tot.

Wir sind kaum in der Lage dazu, machen uns aber trotzdem auf den endlosen Weg zum Krankenhaus. Dort reihen wir uns ein wie alle anderen, stehen Schlange auf der Treppe, warten auf den Arzt, warten dann auf unser totes Kind.

Es ist möglich, dass schon morgen keine Brücke mehr befahrbar ist. Wer weiß schon, wann die nächsten russischen Bomben zielsicher unsere Stadt weiter zerstören werden.

So befolgen wir den Rat, unseren Sohn sofort mitzunehmen. Matvii wird uns übergeben in einer Tüte – eingewickelt in ein Laken. Der Tod hat keine Würde, die Trauer keinen Raum mehr.

Ob wir noch Platz auf unseren Rücksitzen frei hätten für eine Mutter und ihren Sohn, fragt uns ein Arzt. Auf der Fahrt zum Krematorium halte ich Matvii in meinen Armen, fremde Menschen sitzen auf den Rücksitzen unseres Autos. Vor dem Krematorium reihen wir uns ein in die Warteschlange.

Die Sirenen warnen Kiew – es gibt wieder Luftangriffe. Es ist uns gleichgültig. Am Fenster starre ich auf die leeren Straßen Kiews. So sieht es aus in meiner Stadt. So sieht es aus in mir.

4. März: Die Eltern sind am Leben

Der Tag beginnt wie immer. Unsere Eltern leben in der Nähe von Chernihiv, und wir machen uns große Sorgen. Elf Worte rufen sie heute Morgen durch den Hörer: „Wir sind am Leben, haben kein Netz, bitte sagt es allen!“ Inzwischen leben sie nur noch in ihrem Keller.

In Kiew gehen die Menschen ihrem neuen Job nach: Schlange stehen. Wir beginnen mit unseren täglichen Fahrt- und Versorgungsdiensten. Ab dem Nachmittag bombardieren die Russen äußere Stadtteile von Kiew. Fünf Luftangriffswarnungen gibt es.

Ein Mann in unserer Nachbarschaft fragt uns, ob wir auch die Stadt verlassen werden wie schon so viele. Er ist froh zu hören, dass wir bleiben. Es ist 0.38 Uhr. Die Russen greifen in der Nacht an, und wir wissen nie, ob wir und unsere Freunde und Familie am nächsten Morgen noch leben.

3. März: Die Stadt entwickelt Kriegsroutine

Ein Licht für Matvii

Unser wunderbarer Sohn, unser starkes Kind ist tot, schreibt Tania an diesem Tag.


(Foto: imago images/Panthermedia)

Die Stadt entwickelt ihre neue Kriegsroutine. Jeden Morgen gibt es endlose Schlangen vor Supermärkten und Apotheken. Pro Person dürfen zwei Brote gekauft werden. Überall stehen Blockposten auf den Straßen, und jeden Tag kommen neue hinzu.

Kiew wird immer menschenleerer, da viele Männer ihre Frauen und Kinder an einen hoffentlich sicheren Ort gebracht haben. Es gibt so viele freiwillige Blutspender, dass keine mehr benötigt werden.

2. März: Kiew braucht helfende Hände

Schlange vor der Apotheke

Die Stadt entwickelt ihre neue Kriegsroutine. Jeden Morgen gibt es endlose Schlangen vor Supermärkten und Apotheken.

(Foto: dpa)

Mein Mann, Android-Ingenieur mit mehr als sieben Jahren Erfahrung und einem Master-Abschluss, hat den ganzen Tag geholfen, einen Zug mit humanitärer Hilfe zu entladen. In unserer Stadt werden Hände gebraucht. Ich bringe süßen Tee zu den Blockposten in unserer Nähe und biete ihnen an, ihre Wäsche zu waschen.

1. März: Krieg und Tod kommen nahe

Bahnhof Kiew

Helfer entladen einen Zug mit humanitärer Hilfe.


(Foto: action press)

Die Entscheidung ist uns unendlich schwergefallen. Es macht keinen Sinn mehr, täglich auf die andere Uferseite ins Krankenhaus zu fahren. Matvii zu besuchen, wird immer schwerer. So reihen wir uns stattdessen in das Heer der Ehrenamtler ein und bringen Menschen mit unserem Auto zum Bahnhof oder Supermarkt, wir kaufen für unsere Freiwilligen ein und bringen die Ware dorthin, wo sie gebraucht wird.

Wieder zu Hause, erschüttert ein gewaltiger Knall unser Haus, die Fenster vibrieren, und wir flüchten in unseren Flur. Der Fernsehturm wurde angegriffen, und fünf Menschen sterben. Vor wenigen Stunden standen wir an ebendieser Stelle. Krieg und Tod sind uns nahe gekommen.

28. Februar 2022: Das Krankenhaus im Bunker

Endlich dürfen wir wieder auf die Straße. Kiew hat sich gewandelt. Die Menschen sind offener als sonst und miteinander verbunden. An jeder Straßenecke wird Hilfe angeboten, und alle teilen, was sie haben: Essen, Decken, Socken, Medikamente. Wir besorgen Wasser für unser Krankenhaus. Der Weg ist 17 Kilometer lang, und es gibt nur noch zwei Brücken, auf denen die Autos in endlosen Schlangen stehen. Die Armee kontrolliert dort und an vielen anderen Orten. 

Allein zwei Stunden stehen wir auf der Brücke, haben dann nur fünf Minuten mit unserem Sohn, um vor der Ausgangssperre wieder zu Hause zu sein. Die Ärzte im Bunker des Krankenhauses tun alles, um Matvii am Leben zu erhalten, aber es geht ihm sehr schlecht. Die Versorgung, vor allem die inzwischen notwendige Beatmung, kann im Bunker nicht ebenso sichergestellt werden wie in unserem alten Krankenhaus. Das Mädchen neben ihm liegt im Koma.

Zurück im Auto, geraten wir auf der Brücke in einen Luftalarm. Minuten später sehen wir Explosionen an der Stadtgrenze. Sechs Stunden haben wir für Hin- und Rückfahrt gebraucht und schaffen es nur knapp, unsere Wohnung vor Beginn der Ausgangssperre zu erreichen. Die Nächte verbringen wir nun immer im Flur. Mit Decken auf dem Boden versuchen wir, es uns so bequem wie möglich zu machen. Wir schlafen kaum noch.

27. Februar: Mein 28. Geburtstag im Krieg

Der Fernsehturm in Kiew wird bei Luftangriffen getroffen

Vor wenigen Stunden standen wir an ebendieser Stelle, schreibt Tania. Krieg und Tod sind ihr nahegekommen.


(Foto: action press)

Am Tag meines Geburtstages gibt es erneut eine Ausgangssperre. Die Kiewer sitzen fest in Häusern und Wohnungen. In der Stadt kommt es immer häufiger zu Kämpfen, und die Regierung versucht, feindliche Gruppen, die sich in der Stadt aufhalten sollen, aufzuspüren. Meine Familie und Freunde melden sich, um mir zu gratulieren. Doch wir können alle nur wie ein Mantra wiederholen: „Gott, lass bald wieder Frieden sein.“

Ich bin jetzt 28 Jahre alt. Mein Mann Anton und ich spüren, dass wir nicht nur wegen unseres kleinen, tapferen Sohnes in Kiew bleiben, sondern auch für unsere Freiheit, unsere Unabhängigkeit, unser Land. Wir sind nicht Russland und wollen auch nicht ein Teil dieses Landes sein. Alles werden wir tun, um die Russen aufzuhalten.

26. Februar: „Wir leben noch“

Wir sagen nicht mehr guten Morgen. Stattdessen sitzen wir am Handy, rufen Freunde und Verwandte an. Zwar haben bereits viele die Stadt verlassen. Doch der Rest schließt sich jeden Morgen zusammen: „Wir leben noch“, heißt die erlösende Botschaft. Den Rest des Tages besorgen wir Lebensmittel.

Punkt 19 Uhr beginnt die Ausgangssperre. Kiew vernetzt sich immer stärker online, hilft sich gegenseitig. Befreundete Programmierer arbeiten nun daran, Telegram-Kanäle mit Kriegspropaganda zu blockieren. Sie führen auch Attacken auf andere russische Seiten aus, die den Krieg falsch darstellen. Die Sirenen heulen und warnen vor Luftangriffen. Wir sitzen im Flur und verlieren das Zeitgefühl. Der Krieg hat gerade erst begonnen. Aber wir fühlen uns Jahrzehnte von unserem alten Leben entfernt.

25. Februar: Das Krankenhaus wird evakuiert

Der Maidan in Kiew ist menschenleer

Der Tag von Tanias 28. Geburtstag ist der zweite Tag der Ausgangssperre. Kiew sitzt fest in Häusern und Wohnungen.


(Foto: imago images/Agencia EFE)

Der zweite Kriegstag. Wir erhalten die Nachricht, dass das Krankenhaus unseres Sohnes aus Sicherheitsgründen auf die linke Flussseite des Dnjepr verlegt wurde. Der Fluss teilt die Stadt Kiew – wir leben auf der rechten Uferseite. Aus unserem Apartment heraus hören wir immer häufiger Einschläge und Schüsse. Zum ersten Mal verstecken wir uns in unserem eigenen Wohnungsflur, sind gelähmt vor Angst.

Mein Bruder meldet sich via Handy aus Vasylkiv. Die Stadt hat ein Öldepot und wird heftig bombardiert. Zwischendurch versorgen wir unseren 67-jährigen Nachbarn mit Essen.

Als das Telefon erneut klingelt, spricht eine weinende Frau. Sie kann ihre Tochter, die gemeinsam mit unserem Sohn behandelt wird, nicht mehr besuchen. Die russische Armee blockiert bereits die Straße vor ihrem Haus. Dann meldet sich das Krankenhaus. Für die kleinen Patienten sind noch genau zwei Mahlzeiten vorrätig. Auf der Straße ist es gefährlich.

Doch mein Mann setzt sich ins Auto, fährt Supermärkte ab, reiht sich in Schlangen ein, um immer wieder festzustellen, dass Baby- und Kleinkindernahrung kaum noch in den Regalen liegt. In der Nacht sitzen wir dicht an dicht im Flur. Die Angst der Nacht ist wieder da.

24. Februar, 6 Uhr morgens: Putins Armee greift an

Wir bekommen einen Anruf vom Bruder meines Mannes, der uns mitteilt, dass uns Putins Armee angreift. Ist das ein missratener Scherz? Dann beginnen wir zu verstehen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie diese überwältigende Angst vom Magen bis in die Kehle aufsteigt, dass man nicht atmen, nicht schlucken, sich nicht bewegen kann.

Wir lesen Nachrichten und diskutieren, was zu tun ist. Doch wir wissen sofort, dass wir ohne unseren Sohn die Stadt niemals verlassen werden.

Ich erinnere mich daran, dass Trackimo uns Mitarbeitern vor wenigen Tagen angeboten hatte, auf Firmenkosten die Ukraine zu verlassen. Doch wir haben fast alle abgelehnt. Wir waren uns sicher gewesen, dass es nicht zum Krieg kommen würde. Nun kamen die selbst ernannten „Retter“ des ukrainischen Volkes mit Bomben zu uns nach Hause. Wie naiv wir gewesen waren.

23. Februar: Der letzte Tag in Frieden

Ukrainische Soldaten beziehen Stellung auf einer Brücke

Das Krankenhaus von Tanias Sohn wird aus Sicherheitsgründen auf die linke Flussseite des Dnepr verlegt. Der Fluss teilt die Stadt Kiew.

(Foto: dpa)

Unserem kleinen Sohn geht es nicht gut. Er ist krank und entsprechend schlecht gelaunt. Aber die Ärzte erlauben uns, einige Zeit mit ihm zu verbringen, und wir halten ihn in unseren Armen. Zurück in unserer Wohnung scherzen wir mit Freunden über den Krieg und die Putin-Pläne, schauen Fernsehen, und ich sticke, um mich zu beschäftigen. Alles ist wie immer. Ein ganz normaler Abend eben. Rückblickend erscheint das unendlich lange her. Es war die letzte Nacht für lange Zeit, in der wir schliefen.

Mehr: Alle aktuellen Entwicklungen zum Ukraine-Krieg lesen Sie in unserem Newsblog

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