Der Faschismus und seine üblen Verwandten

Frankfurt Wir sind überfordert. Wahrscheinlich schon, seit es Menschen gibt, oder wenigstens, seit wir in vielschichtigen Gesellschaften zusammenleben. Häufig ist die Reaktion darauf eine Mischung aus Aggression, Sehnsucht nach einer früheren Zeit, die nie so golden war, wie sie in der Rückschau erscheint, und der Tendenz, sich die Realität nach Maßgabe des eigenen Unvermögens zurechtzustutzen.

Stark zugenommen hat die Überforderung mit der Moderne, mit dem Aufkommen einer auf Verbrennung fossiler Schätze beruhenden Industrie, der kalten Logik des Kapitalismus und den entzaubernden Zumutungen einer Wissenschaft, die uns nach der eingebildeten Position im Mittelpunkt der Welt mit der Evolutionstheorie auch noch die klare Abgrenzung von der Tierwelt geraubt hat. Die Religionen können schon längst nur noch partiell zur Sinnstiftung beitragen – und auch dort nur um den Preis, Rationalität aus dem Kern ihrer Botschaften auszusperren oder sie zumindest aktiv zu ignorieren.

In der jüngsten Zeit hat das Tempo der Veränderungen und Zumutungen noch zugenommen. Das Wissen der Menschheit vermehrt sich exponentiell, der Anteil des Einzelnen daran schwindet entsprechend.

Das Ideal des Renaissance-Menschen, der körperlich stark und geistig überall zu Hause war, taugt nicht einmal mehr für schlechte Literatur. Selbst die alltäglichsten Gegenstände wie Autos, Küchenmaschinen oder Handys versteht kein Mensch mehr in allen Details, sondern es braucht ganze Teams von Fachleuten, um das notwendige Wissen vorzuhalten. Während die Menschen früher mit Geistern und Magie umzugehen hatten, sind wir heute Experten ausgeliefert – und technischen und sozialen Strukturen, die wir über unser spezielles Wissensgebiet hinaus selbst im besten Fall nur noch ansatzweise verstehen.

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Eine bekannte Faschismus-Theorie, etwa von Umberto Eco vertreten, nimmt diese Überforderung durch die Moderne als Ausgangspunkt. Italien und Deutschland wurden als Überreste des mittelalterlichen, erst durch Napoleon zerschlagenen Kaiserreichs zu modernen Nationen: Das führte zu übersteigertem Nationalismus, befeuert durch das Ressentiment, nicht den gebührenden Platz in der Weltpolitik bekommen zu haben. Ein vergleichbares Risiko tragen Nationen, die erst nach dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie 1918 oder dem Fall der Sowjetunion zu sich finden konnten.

Wo die Gegenwart schwierig ist, bietet der Blick zurück eine zweifelhafte Stütze. In Italien, wo der Begriff „Faschismus“ entstanden ist, nannte der Diktator Benito Mussolini das Mittelmeer „mare nostro“, „unser Meer“, wie schon die alten Römer.

Richard Wagner war Hitlers Liebling

Die Nazis pflegten die schon im 19. Jahrhundert herrschende, von national gesinnten Historikern unterstützte Legende eines allein germanischstämmigen deutschen Volkes; in Wahrheit hat es ja auch keltische und slawische Wurzeln, wenn man der Abstammung überhaupt eine Bedeutung beimessen will. Die Romantik mit ihrer zunächst durchaus unschuldigen Rückbesinnung aufs Mittelalter hat dem Übel ebenfalls den Weg bereitet.

Richard Wagner, der in seinen Opern die Mythen des Nibelungenlieds in plumpe Stabreime, süße Streicherklänge und wuchtige Bläser-Akkorde kleidete, ist das beste Beispiel. Er griff 1850 seinen Komponisten-Kollegen Felix Mendelssohn Bartholdy mit dem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ an und wurde ein Liebling von Adolf Hitler.

Ein anderer historischer Strang neben der Politik war der Übergang einer von Handwerk und Handel geprägten Wirtschaft zum Finanzkapitalismus. Die Geldwelt wurde als unethischer Gegensatz zur Tradition „ehrbarer Kaufleute“ verstanden und der Wandel den Juden angehängt, womit der Übergang vom religiösen zum rassistischen Antisemitismus verbunden war. Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“, zuerst 1855 erschienen, wurde für Jahrzehnte zum Bestseller, weil er als Spiegel dieses Gegensatzes zwischen ehrbar und gierig galt.

Aus dieser Vorgeschichte erwuchs die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts, die im Zweiten Weltkrieg zunächst zu einer Niederlage der rechten, völkischen Bewegungen führte. Die Faschismus-Theorie der verpatzten Modernisierung ist aber in den letzten Jahren wieder sehr aktuell geworden.

Sie schafft eine Verbindungslinie vom Aufleben des Rechtspopulismus, dem Leugnen unbequemer wissenschaftlicher Fakten zum Klimawandel und der Coronapandemie bis hin zum Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine, der in Wahrheit der Angriff auf einen freien Lebensstil und freies, der Wahrheit verpflichtetes Denken ist. Die Verbindungslinie zwischen diesen Phänomenen bedeutet nicht, dass sie gleiches politisches oder moralisches Gewicht hätten. Nicht zufällig aber verstehen sich Rechtspopulisten gut mit Putin und ziehen Verschwörungsgläubige aller Art an.

Nationalismus ist ein brüchiges Skelett der Unabhängigkeit

Auch der militante Islamismus, geboren aus nach-kolonialer Zurückgebliebenheit, gehört in diese Reihe. Viele muslimische Länder haben zuerst unter der Herrschaft des Osmanischen Reichs gelitten und standen dann unter der Fuchtel europäischer Staaten.

Auch dort spielt das Gefühl, zu spät und zu kurz gekommen zu sein – das große Ressentiment –, eine wichtige Rolle. Der Nationalismus bildet ein brüchiges Skelett der Unabhängigkeit, taugt als westliches Konzept aber nur bedingt; zumal es nicht zu einer politischen arabischen Nation gekommen ist, sondern zu einer Landkarte mit willkürlichen Grenzen zwischen militärisch oder religiös geprägten Diktaturen, wo der Ölreichtum veraltete gesellschaftliche Strukturen nicht überdecken kann.

Auch das führt zum Blick zurück zu einer Zeit, in der angeblich alles besser war – zum vermeintlich ursprünglichen Islam. Afghanistan, abwechselnd unter britischem, russischem und dann wieder amerikanischem Einfluss stehend, ist ein weiteres Beispiel: Der hoffnungsvolle Aufbruch in die Moderne hat einen zu großen Teil der Bevölkerung zurückgelassen, und jetzt dreht sich die Zeit, unterstützt von Maschinengewehren, wieder zurück. Oder der Iran: Mittelalterliche Theologen herrschen über eine ansonsten zum Teil durchaus moderne Gesellschaft.

Das Böse zu bekämpfen heißt, es zu verstehen, ohne damit gleich Verständnis zu entwickeln. Umberto Eco hat 1995 in seinem Essay „Ur-Fascism“ für „The New York Revue of Books“ , der an sein Erleben des Falls von Mussolini 1943 in Italien anknüpft, 14 Merkmale des Faschismus aufgeführt: den Kult der Tradition, die Zurückweisung der Moderne, Aktionismus, Zurückweisung von Kritik als Verrat, Rassismus, soziale Frustration der Mittelklasse, Obsession mit Verschwörungstheorien, Fixierung auf Feindbilder, Leben als permanenter Krieg, Verachtung der Schwachen, Heldentum als Lebensnorm, Männlichkeitswahn, Wegfall individueller Rechte zugunsten des „Volks“ und eine verlogene Sprache wie in George Orwells Roman 1984.

Diese Merkmale finden sich heute wieder, wenn auch nicht immer alle gleichzeitig. Frankreich, einst die Grande Nation mit Französisch als Diplomatensprache und Paris als Mittelpunkt der westlichen intellektuellen Welt, hat an Bedeutung verloren.

Emmanuel Macron hat den Spagat versucht, den alten Glanz zu erneuern und das Land zu modernisieren, dabei aber viele Wähler aus dem Blick verloren, die sich abgehängt fühlen und nach rechts schauen und zurück in die goldgeränderte Geschichte. Erschreckend, dass die Populistin Marine Le Pen sogar unter jungen Leuten viele Anhänger hat und bei der jüngsten Wahl deutlich an Stimmen zulegte.

Donald Trump

Der ehemaligen US-Präsident war zum Teil auch deshalb so erfolgreich, weil er die moderne – und komplizierte – Welt ablehnt.

(Foto: dpa)

Donald Trump hat in seinem Wahlkampf 2016 im feinen Economic Club of New York eine Version der US-Wirtschaft mit amerikanischen Autos auf amerikanischen Straßen und neuem Glanz für die alte Industrie versprochen; die Rede klang wie eine Hymne an vergangene Jahrzehnte und fand beim ökonomisch hochgebildeten Publikum überraschend wenig Widerspruch. Die Wähler, die Trump anspricht, lehnen die moderne Welt mit ihrer internationalen Arbeitsteilung, ihrer kulturellen und offen sexuellen Vielfalt ab.

Sie träumen von einer Zeit, als die USA unbestritten die Wirtschaftsmacht Nummer eins und weitgehend unabhängig von anderen Ländern wie China waren. Und von einer Zeit, als man sich noch nicht mit lästigen Umweltfragen beschäftigen musste. Der Klimawandel gilt dann einfach als „Erfindung der Linken“.

Auch gebildete Menschen sind anfällig für irrationale Theorien

Es wäre falsch, in erster Linie arme oder ungebildete Menschen als Anhänger irrationaler Theorien zu verdächtigen. Ein prominentes Beispiel war der Philosoph Martin Heidegger, in dessen Schriften Tiefsinn und verschwommener Trübsinn nicht immer klar auseinanderzuhalten sind.

Lange war er schon als Anhänger der Nazis bekannt, genial beschrieben in dem Buch „Ein Meister aus Deutschland“ von Rüdiger Safranski. Seit 2014, der Veröffentlichung seiner als „Schwarze Hefte“ bekannten Tagebücher, ist die Diskussion über seinen Antisemitismus erneut hochgekocht.

Und so wie es kultivierte Nazis gab, die Wagner-Oper hörten und auf Bechstein-Flügeln musizierten, kann heute das Gemisch aus Rückwärtsgewandtheit und Blindheit für die Realität auch auf einem dichten Bildungshumus gedeihen und der Verteidigung einer angeblich bedrohten abendländischen Kultur geschuldet sein. In der Coronapandemie haben Professoren wie der bekannte Ökonom Stefan Homburg zudem gezeigt, dass Wissenschaft mit militanter Wissensverleugnung einhergehen kann.

Dass die AfD in Ostdeutschland besonders stark ist, verwundert nicht. Während der Westen nach dem Mauerfall mehr oder minder wie vorher weiterleben konnte, erlebte der Osten einen Bruch, der für viele mit dem Verlust von sozialen Positionen und Selbstverständnis verbunden war und von westlicher Arroganz oft übersehen wurde.

Menschenmassen an der Berliner Mauer während des Mauerfalls

Der Mauerfall ist auch heute noch in Deutschland spürbar.


(Foto: imago/imagebroker)

Sogleich entstanden zur DDR-Wirtschaft zwei gleichermaßen arg verkürzte Erzählungen. Im Westen herrschte der Glaube vor, der Osten habe ohnehin seine Statistiken gefälscht und die zum Teil nach der Wende sogar noch zunehmende Unproduktivität der Unternehmen beruhe auf falschen Anreizen und einem falschen Menschenbild.

Im Osten dagegen stand, zum Teil von West-Intellektuellen wie Günter Grass übernommen, die Vorstellung im Vordergrund, der Westen habe gierig oder sogar mutwillig eine den Umständen nach ganz passable DDR-Wirtschaft zerstört. Übersehen blieb bei beiden Varianten, dass der Strukturbruch des gesamten Ostblocks der DDR viele angestammte Kunden, etwa in Russland, entzogen hatte, was ein produktives Arbeiten unmöglich machte. Unterschiedliche Wahrnehmungen dieser Art lassen sich bis heute an Wahlergebnissen ablesen.

In Russland sind Verschwörungsmythen populär

Russland ist ein besonders krasses Beispiel für gefährliche Mythen. Das Land lebt schon lange am Rande der europäischen Kultur, wie die Politologin Nina Khrushcheva, die Urenkelin des russischen Staatschefs Nikita Chruschtschow, im Gespräch mit dem Handelsblatt sagte.

Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts blieb strukturell mittelalterlich, der Adel sprach Französisch, unsterbliche Romanciers wie Tolstoi und Dostojewski oder Komponisten wie Tschaikowski und Mussorgsky bereicherten die europäische Kultur wie bis auf den heutigen Tag noch viele russische Musiker. Aber zarte Ansätze einer demokratischen Revolution hatten keine Chance gegen Wladimir Lenin und die Bolschewisten.

Der Kommunismus brachte zunächst einen Modernisierungsschub, der auch von progressiven Kulturschaffenden wie dem Künstler Kasimir Malewitsch, dem Dichter Wladimir Majakowski und dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch begleitet wurde. Aber die diktatorische Herrschaft der Bolschewisten und dann vor allem Josef Stalins, die Folgen des Zweiten Weltkriegs mit dem brutalen Überfall durch Deutschland und das dysfunktionale Wirtschaftssystem führten zur Erstarrung.

Der russische Präsident

Auch Wladimir Putins Politik ist der Vergangenheit zugewandt.

(Foto: dpa)

Als der Sozialismus zerbrach und die übereilten, vom Westen inspirierten Versuche, eine liberale Wirtschaft herzustellen, in Chaos – bis hin zu Morden zur Klärung geschäftlicher Angelegenheiten – und einer Herrschaft von politisch begünstigten Milliardären endeten, blieb nicht viel übrig, worauf die Gesellschaft sich hätte stützen können.

Putin entschied sich, aber nicht er allein, für den konsequenten Blick zurück: auf den glorreichen Sozialismus von Lenin, Stalins Sieg gegen die Nazis, die orthodoxe Kirche und die russische Geschichte zurück bis zum mittelalterlichen, als Heiligen verehrten Wladimir dem Großen. Der liberale Westen gibt das perfekte Feindbild ab, das mit dem alten Feindbild der Nazis identifiziert wird, und Neusprech im Sinne von Orwell wurde modernisiert und über soziale Medien perfektioniert.

Eine berechtigte Frage ist, ob nicht schon der Kommunismus in das Faschismus-Schema gehört hat. Von seiner Brutalität, der Fixierung auf Feindbilder und der Verdrehung der Wahrheit her sicherlich. Aber was fehlt, ist der Rückbezug auf eine angeblich bessere Vergangenheit.

Faschismus kann rückwärtsgewandt sein, die Mittel aber modern

Karl Marx hatte, analog der christlichen Heilslehre, das Goldene Zeitalter, das schon die Antike in grauer Vorzeit vermutete, ans Ende der Geschichte verlegt. Im Ergebnis hat das häufig zu ähnlichen Exzessen geführt wie der Faschismus, aber der ideologische Untergrund ist verschieden. Zugleich Nähe und Ferne: Das ist die beste Voraussetzung für intensive Feindschaft.

Die verpatzte Modernität, der Blick zurück: Das bleibt das zentrale Thema des Faschismus und seiner hässlichen Verwandten. Dabei machte schon Eco darauf aufmerksam, dass zwar die Struktur und das Grundverständnis rückwärtsgewandt sind, aber die Mittel sehr modern sein können.

Das gilt vor allem für Technik und Medien. Was für die Nazis Rundfunk und Film als Propagandamittel waren, sind heute die sozialen Medien als Brutstätten von Verschwörungstheorien oder Kanäle für dreiste Lügen wie der angeblichen Wahlfälschung in den USA.

Die Nazis entwickelten Raketen, deren Nachfolger später zum Mond flogen, und den ersten Düsenjäger, der wegen Spritmangels am Ende des Kriegs nie starten konnte. Putin vertraut auf Atomwaffen und ist stolz auf seine tödlichen Überschallraketen. Islamistische Terroristen veröffentlichen ihre Morde im Internet. Aber das ändert nichts an den tief im Sumpf einer idealisierten Vergangenheit steckenden Fundamenten der Bewegungen.

Was hilft? Allein eine beharrliche, immer wieder neue Aufklärung. Heute gehört ein kritischer Umgang mit sozialen Medien dazu; wobei junge Leute damit oft besser umgehen können als alte.

Die Öffentlichkeit ist durch Twitter, Facebook und Co. um eine ganze, oft schwer durchschaubare Dimension erweitert worden – was ebenfalls für Überforderung sorgen kann und deswegen Lügnern und Verschwörungstheoretikern in die Hände spielt. Aber wichtig ist eben auch ein besseres Verständnis, woher die Menschenverachtung kommt, die Entlarvung ihrer Wurzeln. Und da, wo das alles nicht hilft, ist ein unerschrockenes Eintreten für die eigenen Werte geboten, wie viele Ukrainer es zurzeit unter furchtbaren Umständen zeigen.

Adorno und Horkheimer haben in der „Dialektik der Aufklärung“ der klassischen Aufklärung vorgeworfen, zu instrumentell und damit selbstzerstörerisch gewesen zu sein. Aber die Aufklärung ist das beste kulturelle Erbe, das wir haben.

Außerdem braucht es Geduld und Zähigkeit. Ecos Essay trägt den Untertitel: „Freiheit und Befreiung sind eine Aufgabe, die niemals endet.“

Mehr: Ukraine-Krieg, Lockdowns in China, Embargo – die Konjunkturrisiken der deutschen Wirtschaft

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