Chefin der Rentenversicherung sieht „noch viele Fragezeichen“

Berlin Die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung (DRV), Gundula Roßbach, sieht noch Klärungsbedarf beim geplanten Aufbau eines Kapitalstocks in der gesetzlichen Rentenversicherung. „Wir sehen da noch viele Fragezeichen“, sagte Roßbach dem Handelsblatt. Offen sei etwa, ob ähnlich wie in Schweden ein Kapitalstock aufgebaut werde, der längerfristig wirken solle, um den individuellen Rentenanspruch zu erhöhen.

Unklar sei auch, ob nur die Erträge aufgezehrt werden oder auch der Kapitalstock, oder welches Risiko abgesichert werden solle. In Schweden seien beispielsweise Erwerbsminderung oder Hinterbliebenenschutz nicht mit abgedeckt. „Wir werden uns auf jeden Fall aktiv in die Überlegungen einbringen“, betonte Roßbach.

SPD, Grüne und FDP haben im Koalitionsvertrag vereinbart, der Rentenversicherung zehn Milliarden Euro aus Steuermitteln zum Aufbau einer kapitalgedeckten Säule zur Verfügung zu stellen. Diese Summe könne aus ihrer Sicht „nur ein Einstieg sein“, erklärte die DRV-Präsidentin: „Zehn Milliarden Euro sind bei einem Haushalt von 340 Milliarden Euro nicht dazu geeignet, in großem Umfang zu stabilisieren.“

Augenblicklich stehe die Rentenversicherung aber „finanziell sehr gut da“. In den ersten elf Monaten liege sie bei den Beiträgen aus Erwerbstätigkeit um 3,7 Prozent über dem Vorjahreszeitraum und um 4,6 Prozent über dem Wert aus 2019.

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„Der Arbeitsmarkt inklusive Kurzarbeit hat sich doch sehr stabilisiert und befindet sich in einem Aufwärtstrend in diesem Jahr. Zum Jahresende werden wir voraussichtlich immer noch eine Nachhaltigkeitsrücklage von 1,55 Monatsausgaben haben – knapp über dem gesetzlichen Höchstwert von 1,5 Monatsausgaben“, betonte Roßbach.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Frau Roßbach, vor 35 Jahren ließ Norbert Blüm den Satz „Denn eins ist sicher: Die Rente“ plakatieren. Gilt das heute noch?
Wenn eines die Gültigkeit dieses Satzes wieder mal unter Beweis gestellt hat, dann ist es die Pandemie. Die Rentenversicherung ist voll handlungsfähig, jede Rentenzahlung wird pünktlich überwiesen, die Beratung ist gewährleistet. In der Pandemie hat sich auch gezeigt, wie stabil wir in der sozialen Sicherung in Deutschland insgesamt aufgestellt sind und wie auch die Sicherungssysteme ineinandergreifen. So hat das Kurzarbeitergeld mit dazu beigetragen, dass bei der Altersabsicherung keine Lücken entstehen.

Millionen von Rentnern hatten sich für das kommende Jahr auf ein sattes Plus von mehr als fünf Prozent gefreut. Nun wird es wohl etwas weniger, weil die neue Bundesregierung den sogenannten Nachholfaktor wieder einführen wird.
Ein wiedereingesetzter Nachholfaktor würde die Rentenanpassung im nächsten Jahr etwas dämpfen. Bewahrheiten sich die Prognosen, hätten wir aber im nächsten Jahr immer noch ein deutliches Plus. Wir sagen aber immer, dass der tatsächliche Wert erst im Frühjahr feststeht.

Aber ist es gut, dass die Bundesregierung den Nachholfaktor wieder einführen will, der – kurz gesagt – Rentenerhöhungen in Krisenzeiten dämpft?
Es gab gesellschaftliche Forderungen, auch die Rentnerinnen und Rentner die Lasten der Pandemie mittragen zu lassen, und die neue Regierung will dem jetzt in einem relativ moderaten Umfang nachkommen. Vielleicht gibt die Coronakrise aber auch Anlass, sich die Anpassungsformel insgesamt noch einmal anzuschauen, um mittelfristig eine Stabilität zu erreichen, die pandemische Sprünge bei der Höhe der Rentenanpassung ein wenig glätten kann.

Wie steht es denn aktuell um die Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung?
Die Rentenversicherung steht finanziell sehr gut da. In den ersten elf Monaten liegen wir bei den Beiträgen aus Erwerbstätigkeit um 3,7 Prozent über dem Vorjahreszeitraum und um 4,6 Prozent über dem Wert aus 2019. Der Arbeitsmarkt inklusive Kurzarbeit hat sich doch sehr stabilisiert und befindet sich in einem Aufwärtstrend in diesem Jahr. Zum Jahresende werden wir voraussichtlich immer noch eine Nachhaltigkeitsrücklage von 1,55 Monatsausgaben haben – knapp über dem gesetzlichen Höchstwert von 1,5 Monatsausgaben.

Die Ampel-Regierung will das Mindestrentenniveau „dauerhaft“ sichern und auch das Renteneintrittsalter nicht antasten. Kann das funktionieren?
Nach unseren Prognosen wird das Rentenniveau nach geltendem Recht bis 2025 nicht unter 48 Prozent fallen und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. Alle wissen, dass es Geld kostet, das Rentenniveau zu stabilisieren – entweder über den Beitrag oder Bundeszuschüsse, und das muss man dann gut austarieren für die Zukunft. Da wäre für uns aber auch wichtig, dass die neue Regierung sich das Gesamtpaket Alterssicherung mit allen drei Säulen anschaut und dann die entsprechenden Weichenstellungen vornimmt für die Zeit nach 2025.

Die Steuermittel für die Rentenkasse werden von 20 Milliarden Euro im Jahr der Wiedervereinigung bis 2024 voraussichtlich auf rund 120 Milliarden Euro steigen. Erleben wir da eine schleichende Abkehr von der Umlagefinanzierung?
Zu Beginn der dynamischen Rente im Jahr 1957 lag der Anteil des Bundeszuschusses an den Gesamtausgaben bei 27,4 Prozent, im Moment liegen wir bei 22,7 Prozent. Der Anteil ist also in den letzten Jahrzehnten gesunken und wird auch künftig im Wesentlichen stabil bleiben. Die absoluten Zahlen hören sich enorm an, aber man muss das immer in Relation zu den Ausgaben sehen.

Sie betrachten nur die klassischen Bundeszuschüsse, die Bundesmittel insgesamt liegen aber deutlich darüber…
Man muss unterscheiden zwischen den Bundeszuschüssen und den sonstigen Bundesleistungen. Bei den Bundeszuschüssen geht es um politisch gewünschte, aber nicht beitragsgedeckte Leistungen, die die Rentenversicherung erbringt – etwa für die Umsetzung der deutschen Einheit. Es handelt sich um eine gewollte Umverteilung, der keine Beitragsleistung gegenübersteht. Die Bundesmittel umfassen zusätzlich konkrete Erstattungen oder Beiträge, die wir etwa für die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung bekommen.

Auf Drängen der FDP dürfen Sie nun bald zehn Milliarden Euro als Startkapital für eine kapitalgedeckte Säule nutzen. Wissen Sie schon, wie Sie das Geld anlegen werden?
Wir sehen da noch viele Fragezeichen. Wird ähnlich wie in Schweden ein Kapitalstock aufgebaut, der längerfristig wirken soll, um den individuellen Rentenanspruch zu erhöhen? Sollen nur die Erträge aufgezehrt werden oder auch der Kapitalstock? Welches Risiko soll abgesichert werden? In Schweden sind beispielsweise Erwerbsminderung oder Hinterbliebenenschutz nicht mit abgedeckt. Wir werden uns auf jeden Fall aktiv in die Überlegungen einbringen.

Wer das Geld verwalten soll, ist noch unklar

Verwaltet werden soll das Geld von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle. Könnte das die Deutsche Rentenversicherung selbst sein?
Dazu müsste klar sein, unter welchen Anlagevorschriften ein solcher Kapitalstock überhaupt aufgebaut werden soll. Dann können wir entscheiden, ob wir das selbst leisten können oder die Expertise von anderen gefragt ist, die stärker als wir am Kapitalmarkt agieren.

Die Rentenversicherung soll laut Koalitionsvertrag auch ihre Reserven reguliert am Kapitalmarkt anlegen dürfen. Stecken Sie die jetzt alle in Aktien?
Ich denke nicht. Es gibt gegenüber den geltenden Anlagevorschriften sicher noch die eine oder andere Stellschraube, die uns etwas mehr Luft bei der Anlage und mehr Rendite verschaffen könnte. Aber die Nachhaltigkeitsrücklage dient zur Stabilisierung des Beitragssatzes und muss deshalb sehr liquide sein, die kann man nicht einfach in Aktien oder Fonds anlegen.

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Zurück zum angedachten Kapitalstock. Wie weit kommt man denn überhaupt mit den zehn Milliarden Euro?
Das kann aus meiner Sicht nur ein Einstieg sein. Zehn Milliarden Euro sind bei einem Haushalt von 340 Milliarden Euro nicht dazu geeignet, in großem Umfang zu stabilisieren. Es hängt, wie gesagt, von den Zielen ab. Wenn das Ziel ist, mit zehn Milliarden Euro einen Kapitalstock aufzubauen und das Geld über Jahrzehnte anzulegen, entfaltet es eine andere Wirkung, als wenn es relativ kurzfristig schon wieder eingesetzt werden soll.

Gerade bei der Kapitaldeckung der Rente wird meist Schweden als Vorbild genannt. Taugen die Skandinavier als role model?
Bei allen internationalen Vergleichen müssen wir den Blick auch ins Kleingedruckte werfen und vor allem das Sozial- und das Steuersystem gemeinsam betrachten. In Schweden wird, wie eben gesagt, nur die Langlebigkeit abgesichert. Hinzu kommt, dass die Bürger die Beiträge von ihrer Steuerschuld abziehen können. Dadurch haben wir eine starke Steuerfinanzierung im schwedischen System. Das ist auch ein Grund dafür, warum es bei der Einführung von den relevanten Gruppen mitgetragen wurde. Anders wäre es Geringverdienern auch nicht zu vermitteln, ins Risiko zu gehen, denn es gibt in Schweden ja keine Garantien.

Taugt die Schweiz als Vorbild?
In der Schweiz zahlt man ohne Beitragsbemessungsgrenze von seinem Gehalt und anderem Einkommen Beiträge, hat eine gedeckelte Rente, aber keine so hohe Steuerbelastung wie in Deutschland. Im Industrieländervergleich stehen wir bei der Alterssicherung hierzulande gut da, wie uns die OECD gerade wieder bescheinigt hat. Obwohl wir neben Japan mit am stärksten von der Demografie betroffen sind, sind die Ausgaben für die Alterssicherung gemessen am Bruttoinlandsprodukt zuletzt sogar leicht zurückgegangen.

Das wird sich aber ändern, wenn die geburtenstarken Jahrgänge ab 2025 in den Ruhestand gehen.
Richtig, bei einer älter werdenden Bevölkerung wird der Anteil steigen, und wir müssen uns dann gemeinsam fragen, was uns eine gute Alterssicherung wert ist. Aber das verfügbare Einkommen der Generation 65 plus liegt bei uns bei 89 Prozent des durchschnittlichen Einkommens der Gesamtbevölkerung, deutlich höher als in Schweden. Und die relative Armutsquote der Älteren in Deutschland liegt fast ein Drittel unter dem OECD-Durchschnitt und ist anders als in Schweden in den letzten 20 Jahren auch nicht angestiegen.

Geringverdiener im Blick behalten

Die Ampel will auch die private Altersvorsorge reformieren. Sollte man die Bürger zu ihrem Glück zwingen und diese obligatorisch machen?
Diese Frage ist ein Dauerbrenner seit Einführung der Riester-Rente 2001. Wenn die Ampel jetzt aber ein staatliches Produkt auflegen will, dann scheint das europarechtlich wohl nur gehen, wenn sie die private Vorsorge obligatorisch macht. Sonst könnte es wettbewerbsrechtliche Probleme geben. Und wenn man bei der privaten Vorsorge mehr Anlagerisiko zulassen will, dann muss man immer auch die in den Blick nehmen, die nicht so viel verdienen und sich dieses Risiko nicht leisten können.

Ihre Mitarbeiter haben wahrscheinlich noch alle Hände voll zu tun mit der Berechnung und Auszahlung der Grundrente und nun soll sie schon wieder evaluiert und verbessert werden. Ist das eine gute Idee?
Wir sind bei der Umsetzung der Grundrente im Zeitplan. Seit Juli prüfen wir bei denjenigen, die neu in Rente gehen, ob ihnen ein Zuschlag zusteht. Bei denen, die schon in Rente sind, haben wir mit der Prüfung begonnen. Da sind jetzt zunächst die ältesten Jahrgänge dran, ab dem kommenden Jahr folgen dann sukzessive die jüngeren. Relativ verwaltungsaufwändig ist für uns die Prüfung der Kapitalerträge im Rahmen der Einkommensanrechnung. Wenn die Regierung auch den Aspekt evaluiert, ob sich dieser Aufwand wirklich lohnt, begrüßen wir das.

Die gesetzliche Rentenversicherung wird künftig wahrscheinlich auch viele Selbstständige aufnehmen müssen, die nicht anderweitig abgesichert sind. Ist sie dafür gerüstet?
Mit den Plänen war die alte Regierung ja schon relativ weit. Es kommt einfach darauf an, welche Selbstständigen bis zu welchem Lebensalter einbezogen werden sollen und wie Opt-out-Regelungen gestaltet werden. Wir haben uns immer dafür ausgesprochen – und so lese ich auch den Koalitionsvertrag – hier stark auf digitale Lösungen zu setzen und bereits anderweitig hinterlegte Daten auch für die Zwecke der Altersvorsorge nutzen zu können.

Noch einmal zurück zur Pandemie. Die Deutsche Rentenversicherung ist ja auch der größte Reha-Träger. Wie entwickelt sich die Nachfrage nach einer Long-Covid-Reha?
Es gibt nicht das eine Post- oder Long-Covid-Symptom, sondern es zeigen sich sehr unterschiedliche Folgewirkungen. Menschen haben Konzentrationsschwächen, mit Luftnot, mit Herz-Kreislauf-Problemen oder allgemeiner Erschöpfung und Müdigkeit zu kämpfen, aber auch mit Angststörungen und Depressionen. Entsprechend unterschiedlich setzt die Reha an, damit die Menschen wieder fit werden für das Leben und den Beruf. In diesem Jahr werden wir voraussichtlich um die 10.000 Post-Covid-Rehas durchgeführt haben. Auch wenn wir einen Anstieg erleben, ist das noch wenig im Vergleich zu den ungefähr eine Million Reha-Maßnahmen, die wir im Jahr durchführen.
Frau Roßbach, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Der Chefökonom: Die umlagefinanzierte gesetzliche Rente ist kein Auslaufmodell – Sie braucht mehr Mut zur Umverteilung

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