BA-Chef Detlef Scheele kritisiert Streichung

Berlin Der scheidende Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, erwartet keine schnelle Entspannung der Fachkräftesituation in Deutschland. „Wir haben einen Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitgeber attraktive Arbeitsbedingungen anbieten müssen, wenn sie bestehen wollen“, sagte Scheele im Interview mit dem Handelsblatt.

Und die Arbeitsagentur könne kurzfristig auch nur bedingt helfen: „Wir haben in der Arbeitslosenversicherung noch rund 700.000 Arbeitslosengeldempfänger. Wer sich arbeitslos meldet, wird in der Regel kurz darauf wieder vermittelt.“ Langfristig helfe die BA aber zum Beispiel, indem sie Weiterbildungen fördere, Unternehmen bei der Qualifizierung ihres Personals berate oder bei der Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland unterstütze.

Die Karlsruher Richter hatten Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent für verfassungskonform erklärt. So hätten die Jobcenter das bisher auch gehandhabt, betonte der Vorstandsvorsitzende der Nürnberger Behörde. Nun solle es ab Juli für ein Jahr Kürzungen von höchstens zehn Prozent geben, und das auch erst ab dem zweiten Meldeversäumnis.

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Wenn jemand eine Weiterbildung ablehne, werde gar nicht sanktioniert. Und wenn dann im neuen Jahr das geplante Bürgergeld komme, sollen wieder bis zu 30 Prozent der Leistung gestrichen werden können. „Das ist nur schwer verständlich“, sagte Scheele. „Ich möchte kein Jobcenter-Berater sein, der das erklären muss.“

Den Plan von SPD, Grünen und FDP, familienpolitische Leistungen in einer neuen Kindergrundsicherung zu bündeln, hält der BA-Chef für äußerst ambitioniert: „Ich finde es richtig, sich um die Kinder von Familien mit kleinen Einkommen zu kümmern.“ Aber eine Leistung für alle Kinder zu konstruieren, die mit zunehmendem Einkommen der Eltern abschmelze, sei „nicht trivial“, weil Bund und Länder und mehrere Sozialgesetzbücher tangiert seien. „Es wäre toll, wenn der Versuch gelingen würde, die familienpolitischen Leistungen etwas zu straffen“, sagte Scheele.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Scheele, die Arbeitslosenquote ist im Mai wieder unter Vorkrisenniveau gesunken, Sie können also mit einer strahlenden Bilanz ausscheiden. Hätten Sie das vor einem halben Jahr gedacht?
Das hätte man zu Beginn der Coronakrise im März 2020 wohl nicht für möglich gehalten, aber wir sehen doch schon seit geraumer Zeit eine Normalisierung auf dem Arbeitsmarkt – trotz immer noch vorhandener Auswirkungen von Corona und des Ukrainekriegs.

Die Kurzarbeit hat sich erneut als Brücke in Krisenzeiten bewährt. Aber welche Lehren sollten nach dem großflächigen Einsatz jetzt gezogen werden?
Wir wollen gemeinsam mit dem Arbeitsministerium und unserer Selbstverwaltung ein Instrument entwickeln, das bei länger anhaltenden Krisen ebenso schnell greift wie die Kurzarbeit, aber auf die aufwendige Einzelabrechnung verzichtet. Denn die beschäftigt uns momentan noch sehr.

Das heißt?
Über 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden vermutlich noch bis ins Jahr 2024 damit beschäftigt sein, die Abschlussrechnungen für Kurzarbeit in der Coronapandemie zu erstellen.

Was haben denn Ihre bisherigen Überprüfungen der vorläufig erteilten Bescheide ergeben?
Häufig geht es um formale Fehler wie beispielsweise eine fehlende Zustimmung des Betriebsrats. Nachzahlungen und Rückforderungen von Kurzarbeitergeld bewegen sich momentan in einem erwartbaren Umfang.

Ihnen sitzt der Bundesrechnungshof im Nacken, der überprüft, ob bei den enormen Summen, die geflossen sind, alles seine Richtigkeit hat.
Das ist ja auch richtig, denn bei 42 Milliarden Euro Ausgaben für das Kurzarbeitergeld in den Jahren 2020 und 2021 würde eine Korrektur mit finanziellen Auswirkungen von nur einem Prozent schon zu einem hohen Millionenbetrag führen. Spannend wird nur sein, ob der Rechnungshof kontextbezogen prüft, das heißt den enormen Druck berücksichtigt, unter dem wir gearbeitet haben, um in der Spitze mehrere Millionen Arbeitsplätze zu sichern.

Vor allem wegen der hohen Ausgaben für die Kurzarbeit ist die Kasse der BA leer. 2023 wollten Sie eigentlich schuldenfrei starten und mit dem Aufbau neuer Rücklagen beginnen. Klappt das?
Wir starten nicht schuldenfrei, denn wir werden den Verlust dieses Jahres von knapp zwei Milliarden durch ein Darlehen ausgeglichen bekommen. Kehrt der Beitrag im nächsten Jahr wie geplant von 2,4 auf 2,6 Prozent zurück, könnten wir das Darlehen tilgen und im dritten oder vierten Quartal 2024 möglicherweise mit dem Aufbau einer neuen Rücklage beginnen. Aber bis wir wieder die 0,65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht haben, die wir für nötig erachten, wird es lange dauern.

Sollte der Beitrag also stärker steigen?
0,2 Prozentpunkte entsprechen ungefähr 2,6 Milliarden Euro mehr Beitragseinnahmen. Unser Normalgeschäft können wir mit einem Beitragssatz von 2,6 Prozent betreiben und auch alles finanzieren, was im Koalitionsvertrag steht. Nur wenn wir wieder zu großen arbeitsmarktpolitischen Interventionen gezwungen sein sollten, wie in der Coronapandemie, dann ginge das nicht.

Was die Ampel plant – und was der BA-Chef dazu sagt

Neben der Arbeitslosenversicherung drohen auch Beitragserhöhungen der Krankenkassen. Sehen Sie eine Gefahr für den Arbeitsmarkt, wenn die 40-Prozent-Marke bei den Sozialversicherungsbeiträgen fällt?
Natürlich ist es wichtig, dass die Arbeit nicht überdimensional belastet wird. Aber wer die 40-Prozent-Marke hochhält, muss auch sagen, was das bedeuten soll: Wird alles bei 40 Prozent gedeckelt und es kommt zu Leistungskürzungen – oder zahlt der Steuerzahler mehr?

Erst Corona, jetzt der Ukrainekrieg kombiniert mit Lieferkettenproblemen und Preisexplosion – trotzdem gibt es gut 1,7 Millionen offene Stellen und die Unternehmen suchen händeringend neue Mitarbeiter. Wie erklären Sie das?
Bei der aktuellen Fachkräfteproblematik tun Unternehmen alles, um ihre Mitarbeiter zu halten, selbst wenn das Geschäft momentan nicht so rund läuft. Zweitens haben wir viele Branchen, deren Personalbedarf unabhängig vom Wirtschaftswachstum hoch ist, etwa die Sozial- und Erziehungs- oder die Gesundheitsberufe. Und dann gibt es nach Corona Nachholbedarf etwa im Tourismus und im Gastgewerbe.

Können die Arbeitsagenturen Firmen, die dringend Personal suchen, überhaupt noch helfen?
Kurzfristig nur bedingt. Wir haben in der Arbeitslosenversicherung noch rund 700.000 Arbeitslosengeldempfänger. Wer sich arbeitslos meldet, wird in der Regel kurz darauf wieder vermittelt. Wir haben einen Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitgeber attraktive Arbeitsbedingungen anbieten müssen, wenn sie bestehen wollen. Langfristig unterstützen wir zum Beispiel, indem wir Weiterbildungen fördern, Unternehmen bei der Qualifizierung ihres Personals beraten oder dabei unterstützen, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen.

Die Ampelkoalition will das Einwanderungsrecht noch einmal anpacken. Was empfehlen Sie?
Geduldete Geflüchtete, die schon lange hier sind, Arbeit haben, deren Kinder hier zur Schule gehen, die sollten meiner Meinung nach bleiben dürfen. Und beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollte die Regierung prüfen, ob man nicht einiges einfacher machen kann, etwa ob Interessenten wirklich alle Nachweise schon vor der Einreise nach Deutschland erbringen müssen. Besser werden müssen wir in Deutschland bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Helfen würde auch, den finanziellen Aufwand für die Zuwanderung zu fördern, also beispielsweise Deutschkurse im Ausland zu finanzieren. Und man muss dafür sorgen, dass Zuwanderer auch ihre Familie mitbringen dürfen, sonst sind sie schnell wieder weg.

Kommen wir zum Umbau des Sozialstaats, den die Ampelkoalition plant. Arbeitslose sollen den Beratern im Jobcenter künftig „auf Augenhöhe“ begegnen können. Geht das aus Ihrer Sicht?
Ich finde den Begriff „Respekt“ besser. Es darf kein Verhältnis geben, in dem der Ratsuchende zum Bittsteller wird. Echte Augenhöhe hieße aber, dass Ratsuchender und Berater einander mit dem gleichen wirtschaftlichen Hintergrund gegenübertreten. Aber das ist ja nicht der Fall.

Eben. Sind Arbeitslose in der Grundsicherung nicht doch in gewisser Weise Bittsteller, weil sie Geld vom Staat bekommen?
Sie bekommen Geld vom Staat und müssen sich als Gegenleistung bemühen, die Hilfebedürftigkeit schnellstmöglich zu beenden. So funktioniert das Solidaritätsprinzip unseres Sozialstaats. Trotzdem kann man sich sehr wohl mit Respekt begegnen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ihre Kunden von oben herab behandeln.

Die Bundesregierung hat gerade beschlossen, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II ein Jahr lang keine Leistungskürzungen über zehn Prozent des Regelsatzes hinaus fürchten müssen. Halten Sie das für sinnvoll?
Meine Einschätzung: Es wäre besser gewesen, wenn die Regierung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 in Gesetzesform gegossen hätte. Die Richter hatten hier einen wirklich klugen und moderaten Weg aufgezeigt.

Das Gericht hatte Kürzungen von bis zu 30 Prozent des Regelsatzes für verfassungskonform erklärt…
Ja, und so haben wir das auch bisher gehandhabt. Nun soll es ab Juli für ein Jahr Kürzungen von höchstens zehn Prozent geben, und das auch erst ab dem zweiten Meldeversäumnis. Wenn jemand eine Weiterbildung ablehnt, wird gar nicht sanktioniert. Wenn dann aber das neue Bürgergeld kommt, sollen wieder bis zu 30 Prozent der Leistung gestrichen werden können. Das ist nur schwer verständlich. Ich möchte kein Jobcenter-Berater sein, der das erklären muss. Dabei kommen 97 Prozent der Leistungsbezieher mit einer Sanktion überhaupt nicht in Berührung. Und trotzdem wird jetzt öffentlich wieder vor allem über Sanktionen diskutiert. Das ist schade.

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Die Bundesregierung will ein neues Bürgergeld einführen. Sollten die Regelsätze höher liegen als aktuell beim Arbeitslosengeld II?
Das ist eine politische Entscheidung. Wenn sie getroffen wird, sollte meiner Meinung nach eher die Berechnungsgrundlage geändert werden, statt einfach willkürlich eine Summe draufzuschlagen. Grundsätzlich muss unser Ziel doch sein, die Menschen aus der Grundsicherung herauszuholen. Denn selbst wenn die Regelsätze höher wären, wäre es, wo immer es möglich ist, besser, arbeiten zu gehen und Tariflohn zu verdienen. Die Chancen waren jedenfalls selten so gut wie jetzt.

Neben dem Bürgergeld will die Regierung auch eine eigenständige Kindergrundsicherung einführen. Ist das sinnvoll?
Ich finde es richtig, sich um die Kinder von Familien mit kleinen Einkommen zu kümmern. Eine Leistung für alle Kinder zu konstruieren, die mit zunehmendem Einkommen der Eltern abschmilzt, ist allerdings nicht trivial, weil Bund und Länder und mehrere Sozialgesetzbücher tangiert sind. Es wäre toll, wenn der Versuch gelingen würde, die familienpolitischen Leistungen etwas zu straffen.

Ihre Nachfolgerin Andrea Nahles arbeitet sich schon ein. Ist bereits absehbar, was sie anders machen wird als der scheidende Chef?
Wir liegen in unseren Vorstellungen nicht allzu weit auseinander. In organisatorischen Fragen wird Andrea Nahles einiges anders machen müssen, weil auf die BA neue Aufgaben zukommen. Inhaltlich wird es sicher Kurskorrekturen geben, aber keine Brüche. Ich freue mich, dass sie meine Nachfolgerin wird.

Braucht Frau Nahles denn weiterhin rund 100.000 Kolleginnen und Kollegen, oder könnte sie die Mammutbehörde BA verschlanken?
Dass wir aktuell einige Mitarbeiter mehr beschäftigen, liegt an den befristeten Einstellungen zur Abrechnung der Kurzarbeit. Aber man darf auch nicht vergessen, dass unsere ganzen digitalen Angebote wie die Apps oder die Selbsterkundungstools gepflegt und weiterentwickelt werden müssen. Das kostet Geld und Personal. Bis 2030 verlieren wir altersbedingt ungefähr ein Fünftel unserer Mitarbeiter, und in den Großstädten haben wir jetzt schon Probleme, Personal zu finden.

Wir haben einen Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt, Sie müssen besser zahlen.
Die BA zahlt für den öffentlichen Dienst schon ganz gut.

Frank Bsirske wollte nach seinem Ausscheiden als Verdi-Chef eigentlich vor allem Bücher lesen, jetzt sitzt er für die Grünen im Bundestag. Wo werden wir künftig den Ex-BA-Chef Scheele sehen?
Wenn ich das Studium mitzähle, habe ich 43 Jahre gearbeitet, deshalb brauche ich jetzt erst mal vier oder fünf Monate Zeit zum Luftholen. Und im Herbst werde ich überlegen, ob ich auf die eine oder andere Anfrage eingehe, die mir gestellt wird. Aber ich werde sicher nicht für irgendein politisches Amt kandidieren. Das müssen Jüngere machen.

Herr Scheele, vielen Dank für das Interview.

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