Ahrtal nach der Flut: Ist der Wiederaufbau sinnvoll?

Bad Neuenahr-Ahrweiler „Wir haben viel getan, aber wenig auf die Beine gestellt. Es ist eine Katastrophe.“ Mit diesen drastischen Worten beginnt Ortsbürgermeister Alfred Sebastian (CDU) die Bürgerversammlung vergangene Woche in Dernau. Es soll an dem Abend um die Zukunft des rheinland-pfälzischen Dorfes gehen, um Wiederaufbau, Neugestaltung und Chancen. Doch allein der Veranstaltungsort zeigt, dass es noch ein langer Weg ist, bis wieder Normalität im Ahrtal eingekehrt: Die rund 60 Menschen haben sich mangels Alternativen in einem gelb-blauen Zirkuszelt versammelt.

Aus den Worten des Ortsbürgermeisters spricht auch der Frust der Menschen. Wer durch Dernau läuft, sieht vor allem eins: Baustellen. Bis auf den Rohbau entkernte Häuser stehen neben bereits neu errichteten modernen Fertighäusern. Dazwischen immer wieder Häuser, an denen die Spuren von Wasser und Schlamm noch deutlich zu sehen sind. Der Bürgermeister hat sein Büro jetzt in einem Container, die Grundschule ist eine Ruine, die Kita muss neu gebaut werden. Zumindest auf dem Friedhof stehen die Grabsteine wieder ordentlich.

Ein Jahr nach dem großen Hochwasser wird deutlich, vor welcher riesigen Aufgabe die Menschen im Ahrtal stehen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli verloren mehr als 180 Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ihr Leben. Die Bundesregierung schätzt den wirtschaftlichen Schaden auf 32 Milliarden Euro, Zehntausende Häuser wurden beschädigt. Strom- und Wasserleitungen, Straßen und Bahnlinien hat die Flut teilweise oder komplett zerstört.

Und die Menschen im Ahrtal stehen vor einem Dilemma, das künftig auch andere Regionen in Deutschland betreffen wird: Verlässt man seine Heimat, oder baut man wieder auf in dem Bewusstsein, dass jederzeit eine erneute Flut alles wieder zerstören kann? Denn die Wahrscheinlichkeit für Naturkatstrophen steigt, nicht nur an der Ahr, sondern überall in Deutschland. Pünktlich zum Jahrestag der Flut hat der Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Ralph Tiesler, gefordert: „Als Bevölkerungsschützer sage ich, dass manche Flächen aufgrund des Klimawandels und der akuten Bedrohung durch Unwetterkatastrophen und Flutkatastrophen nicht wiederbesiedelt werden sollten.“

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Das Jahrhunderthochwasser an der Elbe 2002, Sturm Kyrill 2007 und die Sturzflut im Juli 2021: Extreme Wettereignisse treffen Deutschland immer häufiger. Daran wird sich laut Experten auch in Zukunft nichts ändern, ganz im Gegenteil. „Wir sind mitten im Klimawandel. Starkregenereignisse wie im Juli 2021 werden künftig häufiger passieren“, sagt Fred Hattermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Besonders gefährdet seien Dörfer in sogenannten Talausgangslagen und dicht besiedelte Flächen wie Städte. Doch stattfinden könnten durch Starkregen ausgelöste Hochwasser überall in Deutschland. Und da beginnt das Problem. „Wir können unsere Infrastruktur nicht schnell genug an den Klimawandel anpassen“, sagt Hydrologe Hattermann. Städte etwa ließen sich nicht einfach umplanen, liegen aber zum Großteil an Flüssen. Dieses Dilemma zeigt sich auch beim Wiederaufbau im Ahrtal.

Sanierungsarbeiten in Mayschoß

Auch in Mayschoß hatte die Ahr gewütet. Noch immer werden Häuser entkernt und trocken gelegt.

Philipp Berninger schaut von seinem Haus direkt auf die Ahr. Friedlich fließt der Fluss an diesem Julitag an Dernau vorbei. Die vielen neuen Kiesbänke und die fehlenden Bäume am Ufer lassen noch erahnen, was dort vor einem Jahr passiert ist. Berningers Haus trennt allein die zweispurige Straße vom Fluss. „Das Wasser stieg bis in den zweiten Stock“, erinnert sich der Architekt an die Flutnacht. Zusammen mit seiner Familie harrte er im obersten Stock aus.

Berninger hatte Glück im Unglück. Sein Haus hat an der Fassade nur kleinere Schäden abbekommen. Balkon und Treppe des Nachbarhauses haben größeres Treibgut wie Gastanks auf Abstand gehalten. Doch auch so muss Berninger das fast 100 Jahre alte Haus kernsanieren. Ein halbes Jahr habe er das Haus erst einmal trocken lassen. Inzwischen sind die Wände neu verputzt, ein neuer Boden fehlt noch. Er hofft, Ende des Jahres wieder mit seiner Familie dort zu wohnen.

Flut traf in Dernau 90 Prozent der Häuser

Dernau ist einer der besonders schwer getroffenen Orte im Ahrtal. 90 Prozent der Häuser waren überschwemmt, elf Menschen kamen ums Leben. Angst vor einem neuen Hochwasser hat Berninger trotz allem nicht. Nur auf eine dritte Sanierung hätte er keine Lust mehr.

Dabei sind erneute Hochwasser an der Ahr wahrscheinlich. „Hochwasser mit solchen Wassermengen kommen im Ahrtal natürlich vor“, sagt Jürgen Herget, Geograf an der Universität Bonn. Zusammen mit seinem Kollegen Thomas Roggenkamp hat er die Flutkatastrophe von 2021 mit historischen Fluten verglichen. Das Ergebnis: Bei dem Hochwasser von 1804 floss genauso viel Wasser durch das Tal wie rund 200 Jahre später. Rund 1200 Kubikmeter Wasser pro Sekunde sollen laut den Forschern bei beiden Fluten durch das Tal bei Dernau gerauscht sein. Beim letzten Hochwasser an der Ahr 2016 waren es 230 Kubikmeter Wasser pro Sekunde.

Daten der World Weather Attribution Initiative zeigen, dass wegen der Erderwärmung um durchschnittlich 1,2 Grad Celsius Starkregen häufiger und stärker auftreten wird. Eine wärmere Atmosphäre kann mehr Wasser speichern, aber auch mehr Wasser abgeben. Hinzu kommt der schwächere Jetstream. Dieses Windband sorgt für einen Temperaturausgleich zwischen den kühleren Polen und dem wärmeren Äquator. Durch die schmelzenden Polkappen verringert sich der Temperaturunterschied, der Jetstream wird schwächer. Die Folge in Europa: Tief- und Hochdruckgebiete bleiben länger über einer Stelle. „Bei der Flutkatastrophe im Juli 2021 hatte es zuvor schon tagelang geregnet. Der Boden konnte kein Wasser mehr aufnehmen“, sagt Hattermann. Dazu kamen die steilen Hänge, an denen das Wasser nach unten rauschte.

Zerstörung im Ahrtal

Die Flut vor einem Jahr zerstörte im Ahrtal ganze Dörfer und kostete in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz über 180 Menschen das Leben.


(Foto: imago)

Doch warum waren die Folgen 2021 so viel schlimmer als 1804? Das liegt vor allem an der dichteren Besiedlung. Zusätzliche Häuser nehmen Fläche weg. „Das Wasser staut sich deshalb höher“, sagt Herget. Eine Gefahr, die überall besteht, wo viele Menschen auf wenig Fläche wohnen.

Die Menschen im Ahrtal müssen nun den Kompromiss zwischen Wiederaufbau und Hochwasserschutz finden. „Die Orte nicht wiederaufzubauen ist unrealistisch“, sieht auch Herget ein. Doch die Menschen dürften sich beim Hochwasserschutz nicht allein auf die Politik verlassen, warnt er. „Eine Restverantwortung bleibt für jeden Einzelnen, der an der Ahr und jedem anderen Fluss wohnt.“

Dass die Ahr mehr Platz braucht, sehen alle ein. Doch der ist im engen Tal begrenzt. Einfach in höheren Lagen zu bauen, würde den dortigen Winzern die Erwerbsgrundlage nehmen. Platz für den Fluss schaffen sollen neue Überschwemmungskarten. In gelb markierten Flächen darf keiner mehr bauen, in blauen Flächen nur noch hochwasserangepasst. Dann wäre zum Beispiel im Erdgeschoss eine Garage anstatt des Wohnzimmers, im Haus könnten Hochwasserschutztüren das Wasser aufhalten. Allerdings gelten diese Regelungen nicht für Sanierungen, sondern nur für Neubauten. Und so stehen auch weiterhin konventionell errichtete Gebäude nur wenige Meter vom Ufer entfernt.

Rolf Schmitts Haus ist eines davon. Nur 20 Meter hinter seinem Garten in Marienthal schlängelt sich der Fluss entlang. „Für mich stand am Tag nach der Flut fest, dass ich wieder aufbaue“, sagt Schmitt, Verbindungsperson der Verbandsgemeinde Altenahr für Marienthal und Dernau. „Das ist meine Heimat, hier bleibe ich.“ Bis kurz unterm Dachboden stand das Wasser in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli. Den Keller fliest er nun, der Stromkasten kommt in den ersten Stock. Anstatt einer Öl- oder Gasheizung heizen Holzpellets aus der Dorfwärmeheizung künftig sein Haus. „Das ist auch Hochwasserschutz“, sagt Schmitt.

In den Niederlanden hätte Schmitt nicht so leicht in bester Flusslage wohnen bleiben dürfen. Das Nachbarland verfolgt seit Jahrzehnten einen landesweiten Hochwasserschutzplan und schreckt auch nicht vor Enteignungen zurück. Dort bekommen die Flüsse mehr Raum, neue Deiche werden gebaut und im Zweifel eben auch Menschen umgesiedelt. Hierzulande schrecken Politiker vor solch drastischen Maßnahmen zurück.

Bereits nach dem letzten Hochwasser an der Ahr 2016 wollten die Behörden in Schutzmaßnahmen investieren. Passiert ist seitdem wenig. Auch nach der Flutkatastrophe fehlt bislang ein Hochwasserschutzkonzept für das Ahrtal. Die Gemeinden und der Landkreis Ahrweiler wollen sich nun auf einen gemeinsamen Plan verständigen. Einen konkreten Zeitrahmen zur Umsetzung könne man noch nicht nennen, teilt der Landkreis auf Nachfrage des Handelsblatts mit.

Sachsen setzt auf zentrale Organisation

Wie ein konsequenter Hochwasserschutz aussehen kann, zeigt Sachsen. Das Bundesland hat nach dem Jahrhunderthochwasser 2002 mehr als drei Milliarden Euro in Schadensbeseitigung, Deiche, Rückhaltebecken und Schutzmauern investiert. Die Landestalsperrenverwaltung kümmert sich zentral um die Gewässerunterhaltung und den Hochwasserschutz der wichtigen Gewässer in Sachsen. Ein Landeshochwasserzentrum ist für die Flutvorhersagen zuständig und warnt Kommunen und Bevölkerung im Notfall. Aber Eckehard Bielitz, Geschäftsführer der Landestalsperrenverwaltung, warnt auch: Menschen, die in Flusstälern wohnen, gingen bewusst ein Risiko ein und müssten auch Eigenvorsorge leisten. „Es gibt keinen hundertprozentigen Hochwasserschutz“, sagt Bielitz. Wichtig seien deshalb möglichst genaue Vorhersagen, wo das Wasser hinfließen werde, und die Menschen rechtzeitig zu warnen. „Für die Elbe haben wir eine Vorhersagedauer von etwa 70 Stunden.“ 70 Stunden, in denen Menschen sich in Sicherheit bringen können.

Im Ahrtal hatten die Menschen meist keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Warnungen erreichten viele trotz Vorhersagen gar nicht oder zu spät. Damit sich das künftig nicht wiederholt, baut das Land Rheinland-Pfalz nun unter anderem ein Warnsirenennetz auf.

Viele im Ahrtal sind sich einig, dass das Land den Hochwasserschutz koordinieren muss. „Es braucht ein Hochwasserschutzkonzept von der Quelle bis zur Mündung“, sagt Martin Schell, Koordinator des Wiederaufbaus in Dernau. Und Verbindungsmann Schmitt fordert: „Die Menschen wollen wissen, wie ihr Ahrufer aussehen wird, wo Naturflächen hinkommen.“ Das Land und der Bund müssten den Kommunen auch bei der Finanzierung helfen.

Streit um historische Ahrbrücke

Der Hochwasserschutz wird die Menschen noch vor so manches Dilemma stellen – so wie an der Nepomukbrücke in Rech. Die Flut hat die Hälfte der ältesten Ahrbrücke weggerissen. Aus Hochwasserschutzgründen hatte der Gemeinderat den Abriss beschlossen. Allerdings steht die Brücke unter Denkmalschutz und gehört für die Einwohner zum vertrauten Bild ihrer Heimat. Deshalb ist der Abriss noch nicht endgültig entschieden. Das Risiko bei einer neuen Flut bleibt aber. „An solchen Brücken kam es zu sogenannten Verklausungen“, sagt Geograf Herget. Treibgut wie Autos und Wohnwagen haben die Brücken verstopft. Wenn der Druck des Wassers zu groß wurde, brachen die Brücken, das Wasser schoss mit hoher Energie weiter das Tal hinab. „Eine solche pulsierende Flutwelle sorgt für einen rasant schnellen Anstieg“, erklärt Herget.

Nepomukbrücke in Rech

Der Abriss der historischen Brücke ist im Ort umstritten.

Ein Kompromiss zwischen Hochwasserschutz und die Heimat wiederaufbauen muss noch gefunden werden. Dabei helfen soll, zumindest für die Verbandsgemeinde Altenahr und damit auch für Dernau, Rech und Mayschoß, das Stadtplanungsbüro Albert Speer + Partner (AS+P). „Wir haben alle Instrumente, um hochwasserangepasst zu bauen. Die Frage ist nur, wo und wie konsequent diese angewendet werden“, sagt Lutz Krämer-Heid, Stadtplaner bei AS+P. Wie das Ahrtal in 20 oder 30 Jahren aussehen soll, wollen die Stadtplaner zusammen mit den Bewohnern vor Ort erarbeiten. Neben einem übergeordneten Leitkonzept soll auch jede Gemeinde einen eigenen Entwurf bekommen. „Die Menschen sind ein Jahr nach der Flut nun bereit, sich Gedanken über ihren Ort zu machen“, sagt Svenja Knuffke, Stadtplanerin bei AS+P.

Doch die Ahrtaler müssen beim Wiederaufbau geduldig sein. Zehn Jahre könnte der Wiederaufbau dauern, meint Martin Schell, Vorstandsvorsitzender der „Zukunft Mittelahr“. Damit das etwas schneller geht, haben die Orte Dernau, Rech und Mayschoß diese Anstalt des öffentlichen Rechts gegründet. Sie klärt Fragen für alle drei Orte bei Kreis- und Landesstellen und sorgt für Wissenstransfer.

„Wir haben die gleichen Probleme und gehen sie gemeinsam an“, sagt Sebastian Sonntag, Vorstandsmitglied der „Zukunft Mittelahr“. Sonntag hat sein Büro in Mayschoß, hoch gelegen, nahe an den Weinbergen. Bis dorthin kam die Flut nicht. Aber weiter unten in der Stadt ist der Dorfplatz zerstört, Handwerker verlegen neue Elektrik in den Häusern. Die Winzergenossenschaft, das „Herzstück“ des Ortes, muss neu gebaut werden.

Die „Zukunft Mittelahr“ hat auch noch einen anderen Zweck: Sie stellt zusätzliches Personal. Denn die Verwaltungen sind überlastet. Ehrenamtliche Ortsbürgermeister sind auf einmal für den Wiederaufbau ihrer Dörfer verantwortlich.

30 Milliarden Euro Hilfsgelder von Bund und Ländern

Schell hat seinen Bürojob in einer Marketingagentur gekündigt und koordiniert nun in Vollzeit den Wiederaufbau in Dernau. Und auch ihm merkt man den Frust an. „Ich hätte gedacht, wir seien nach einem Jahr weiter“, sagt Schell. Die Bürokratie nehme teilweise überhand. Allein Dernau hat über 80 Einzelmaßnahmen in Höhe von fast 90 Millionen Euro aus dem Wiederaufbaufonds beantragt. 30 Milliarden Euro stellen Bund und Länder den betroffenen Regionen zur Verfügung.

Nun wünscht sich Schell dringend ein vereinfachtes Baurecht: „Die langwierigen Prozesse der ,normalen‘ Bauleitplanung sind für solche Situationen nicht förderlich und bremsen uns stark aus.“

Haus in Dernau

Die Menschen im Ahrtal wollen ihre Heimat wiederaufbauen. Botschaften auf einem Haus in Dernau verbreiten Zuversicht.

Trotz aller Hindernisse ist der Aufbauwille der Ahrtaler ungebrochen. Und die Flut erweist sich auch als Chance. Die rund 100 Einwohner in Marienthal bekommen nun erstmals einen Dorfplatz mit Spielplatz und Gemeindehaus. Zusätzlich baut der Ort ein Nahwärmenetz auf. „Wir haben jetzt eine Chance, die wir nie ohne die Flut bekommen hätten“, sagt Schmitt. Die Frage ist nur, wie schnell das Wasser wiederkommt.

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