60 Jahre Élysée-Vertrag: Weniger Pathos, mehr Projekte

Paris Der Élysée-Vertrag, um den in diesen Tagen aufgrund seines Jubiläums so viel Aufsehen gemacht wird, ist ein ziemlich nüchternes Dokument. Auf wenigen Seiten verpflichteten sich Deutschland und Frankreich am 22. Januar 1963 zu regelmäßigen Regierungskonsultationen. Beide Länder legten fest, sich bei auswärtigen Angelegenheiten und bei der Verteidigung abzusprechen. Und sie gaben sich gemeinsame Ziele in der Kultur- und Jugendpolitik.

Der technische Charakter des Vertrags steht im Gegensatz zu seiner symbolischen Tragweite: Denn der 18 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschlossene Élysée-Pakt schuf tatsächlich die Grundlage der Versöhnung der zwei einstigen Erzfeinde. Er schuf jenes so wichtige Narrativ, das bis in die Gegenwart hineinwirkt und das in Zeiten, in denen Europa sich mit einem Krieg im Osten konfrontiert sieht, wichtiger kaum sein könnte.

Über die vergangenen Jahrzehnte allerdings hat sich daraus auch ein verklärtes Bild entwickelt. Liebevoll spricht man vom deutsch-französischen Paar, mindestens aber vom deutsch-französischen Motor. Die Mythenbildung verdeckte, dass Paris und Berlin stets in einem Spannungsverhältnis zueinander standen, bei den wirtschaftlichen Interessen ebenso wie beim strategischen Selbstverständnis.

Unter dem Eindruck geopolitischer Umbrüche tritt dieses Spannungsverhältnis nun viel klarer hervor. Und es ist im Alltag stärker spürbar geworden, weil die Bedeutung der europäischen Dimension für nationale Politik zugenommen hat.

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In der veränderten Weltlage sind die jüngsten Misstöne zwischen Paris und Berlin daher kein Warnsignal für einen Niedergang der Beziehungen. Vielmehr zeigen sie, wie wichtig die deutsch-französische Zusammenarbeit ist – nicht zuletzt als Impulsgeber für die Europäische Union. Aber: 60 Jahre nach dem Élysée-Vertrag braucht die Partnerschaft dringend neue Impulse.

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag mit dem gesamten Kabinett nach Paris reist, feiert er mit der Regierung von Präsident Emmanuel Macron nicht nur das Jubiläum des Freundschaftsvertrages. Der Bundeskanzler und der Staatspräsident holen auch den im Herbst abgesagten deutsch-französischen Ministerrat nach. Danach bleiben ihnen noch rund zweieinhalb Jahre, in denen in beiden Ländern keine nationalen Wahlen stattfinden. Dieses Zeitfenster müssen Macron und Scholz – jenseits aller pathetischen Rhetorik – für einen Kooperationsschub im Konkreten nutzen. Und zwar in den Bereichen Verteidigung, Wirtschaft und Energie.

1. Verteidigung: Gemeinsame Rüstungsprojekte beschleunigen

Bereits der Élysée-Vertrag stellte die Verteidigungszusammenarbeit in den Vordergrund. Ziele waren gemeinsame Rüstungsvorhaben und eine Annäherung „auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik“. In der Realität verstand sich die Atommacht Frankreich stets als selbstbewusster und eigenständiger Akteur, die Bundesrepublik dagegen war im Kalten Krieg eng an den Bündnispartner USA und die Nato gekoppelt.

Dieser Gegensatz hallt bis heute nach, auch wenn die Franzosen ihren Platz in der Nato wiedergefunden haben und Macron seine vorübergehende „Hirntod“-Diagnose für die westliche Allianz nicht mehr wiederholt. Die französischen Vorstellungen von mehr europäischer Autonomie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehen für Deutschland zu weit. Wenn Paris und Berlin von europäischer Souveränität sprechen, meinen sie nicht das Gleiche.

Schnell ist in Deutschland allerdings in Vergessenheit geraten, dass noch vor zwei Jahren unter dem US-Präsidenten Donald Trump die Zweifel an der Verlässlichkeit des Nato-Partners groß waren. Russlands Attacke auf die Ukraine hat den Krieg an die Grenzen der EU zurückgebracht. Die berechtigte Frage aus Paris ist, wie sich die USA wohl verhalten würden, wenn gerade Trump oder Vertreter seiner isolationistischen Denkschule an der Macht wären.

Emmanuel Macron beim Nato-Gipfel in Madrid im Juni 2022

Die französischen Vorstellungen von mehr europäischer Autonomie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehen für Deutschland zu weit.


(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Der russische Angriffskrieg hat die Bedeutung von europäischen Fähigkeiten im militärischen Bereich vor Augen geführt. Die Aufgabe für Frankreich und Deutschland in den nächsten Jahren ist, die gemeinsamen Rüstungsprogramme zu beschleunigen. Beim Luftwaffensystem FCAS konnte die Blockade zwischen Airbus und dem französischen Kampfjet-Bauer Dassault im Dezember zwar überwunden werden, doch die beteiligten Unternehmen stehen sich weiter argwöhnisch gegenüber. Berlin und Paris müssen darüber wachen, dass die nächste Entwicklungsphase zügig vorangeht.

>> Lesen Sie hier: Wie Deutschland und Frankreich ihre Freundschaft retten wollen

Derweil steckt das Main Ground Combat System (MGCS) mit einem deutsch-französischen Kampfpanzer der Zukunft in einer frühen Projektstufe fest, hier muss der Druck auf die Industrie ebenfalls erhöht werden. Die Politik wiederum ist in der Pflicht, die Rüstungsexportregeln zu harmonisieren – was vor allem der Bundesregierung eine Abkehr von den strikteren deutschen Vorgaben abverlangen wird. Deutschland und Frankreich müssen in den kommenden Jahren aber einen Rahmen für die Exportkontrolle schaffen, der den Rüstungsunternehmen für gemeinsame Projekte Planungssicherheit gibt.

2. Raumfahrt: Den europäischen Zugang zum All sichern

Die Zeiten sind schwierig für die europäische Raumfahrt: Ende Dezember stürzte die Trägerrakete Vega C bei ihrem ersten kommerziellen Flug kurz nach dem Start ins Meer. Der Jungfernflug der neuen Schwerlast-Trägerrakete Ariane 6 musste mehrfach verschoben werden und soll nun frühestens Ende 2023 stattfinden. Europa droht beim Zugang zum All ins Hintertreffen zu geraten – und das wird für Deutschland und Frankreich zum Problem.

Für beide Länder ist ein unabhängiger Zugang zum Weltraum nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen wichtig. Die militärstrategische Bedeutung des Alls wächst, ohne Satellitenunterstützung läuft bei modernen Streitkräften wenig. Vor allem Berlin und Paris sind in den nächsten Jahren gefordert, die Fähigkeiten Europas auf diesem Gebiet zu stärken – denn der Kern der europäischen Raumfahrtindustrie ist deutsch-französisch.

Vega-C-Rakete

Ende Dezember stürzte die Trägerrakete Vega C bei ihrem ersten kommerziellen Flug kurz nach dem Start ins Meer.


(Foto: AP)

Dazu braucht es nicht nur mehr finanzielle Mittel. Beide Regierungen müssen sich auch verständigen, wen und was sie fördern. Deutschland konzentrierte sich zuletzt verstärkt auf private Unternehmen und Start-ups, die allerdings vor allem kleinere Trägerraketen entwickeln. Frankreich dagegen setzt eher auf etablierte Akteure wie den deutsch-französischen Raketenbauer Arianegroup. Nötig ist eine klare Vision, wie die europäische Raumfahrtindustrie der Zukunft aussehen soll.

3. Wirtschaft: Die Abwanderung der Industrie verhindern

Es ist kein Geheimnis, dass sich die Wirtschaftsmodelle von Deutschland und Frankreich sehr unterscheiden. Die deutsche Exportwirtschaft ist auf offene Weltmärkte angewiesen. Für Frankreich steht im Vordergrund, die heimische Industrie vor widrigen globalen Bedingungen abzuschirmen. Während sich der Staat in Deutschland traditionell zurückhält, griffen französische Regierungen planend in die Wirtschaftsprozesse ein.

Paris versucht mit zunehmendem Erfolg, das französische Leitbild auf EU-Ebene zu verankern. Die französischen Argumente sind nicht von der Hand zu weisen: Chinas Staatskapitalismus benachteiligt die Europäer beim Marktzugang. Die USA fahren auch unter US-Präsident Joe Biden einen zunehmend protektionistischen Kurs.

Zwar unterscheidet sich die Rhetorik stark von der seines Vorgängers Donald Trump, in der Sache aber sind sich Demokraten und Republikaner in ihrem America-first-Ansatz weitgehend einig. Das zeigen vor allem die amerikanischen Subventionen für klimafreundliche Technologien im Inflation Reduction Act, der zu Recht in Europa eine große Debatte über die so wichtigen transatlantischen Beziehungen ausgelöst hat.

>> Lesen Sie hier einen Gastkommentar von Philippe Oddo: Europa braucht eine neue Ära der deutsch-französischen Beziehungen

Die Gefahr einer Deindustrialisierung wird mittlerweile auch in Deutschland gesehen. Außerdem sollte man in der Bundesrepublik bedenken: Zwar sind die USA und China die größten Einzelmärkte für die deutschen Exporte, mehr als die Hälfte der Ausfuhren geht aber in den europäischen Binnenmarkt – und dort vor allem nach Frankreich.

Die wohl dringlichste Aufgabe für Macron und Scholz ist es, eine abgestimmte Position für eine Reform der europäischen Wirtschaftspolitik zu formulieren und diese in Brüssel durchzusetzen. Im Interesse beider Länder ist, sich auf eine Lockerung der Subventionsregeln zu verständigen. Auch wenn es darum geht, den grünen Umbau der Wirtschaft zu fördern oder die Abhängigkeiten etwa bei Rohstoffimporten zu reduzieren, sind Paris und Berlin auf einer Wellenlänge.

Bei der Frage der Finanzierung müssen sie dagegen einen Kompromiss finden: Die Bundesregierung ist bei den französischen Ideen einer erneuten Aufnahme von gemeinschaftlichen Schulden in der EU zu Recht skeptisch. Die gemeinsame Linie könnte sein, Milliardensummen anderer europäischer Programme – vor allem des Corona-Hilfspakets „Next Generation EU“ – für die neuen industriepolitischen Vorhaben zu verwenden.

Fortsetzen müssen Deutschland und Frankreich ihre Unterstützungspolitik für die Tech-Branche. Die von beiden Regierungen initiierte „European Tech-Champions Initiative“, die Start-ups im fortgeschrittenen Stadium den Zugang zu Wagniskapital erleichtern und so ein Wachstum zu globalen Tech-Playern ermöglichen soll, muss in den nächsten beiden Jahren mit Leben gefüllt werden.

4. Energie: Ein deutsch-französisches Netz aufbauen

Kein Thema spaltet Deutschland und Frankreich in der Energiepolitik so sehr wie die Kernkraft. An dem unterschiedlichen Umgang mit der Atomenergie wird sich nichts ändern. Die Regierungen müssen daher versuchen, diesen Gegensatz bestmöglich in eine gemeinsame Energiepolitik zu integrieren. Das Ziel muss dabei eine klimaneutrale Wirtschaft sein, die möglichst wenig von der Energiezufuhr aus anderen Weltregionen abhängig ist.

Paris und Berlin sollten auf eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Unternehmen beim Ausbau der erneuerbaren Energien setzen. Beide Länder planen in den kommenden Jahren massive Investitionen in die Windkraft. Auf diesem Gebiet sind einige deutsche Konzerne wie Siemens oder RWE bereits im Nachbarland aktiv.

Emmanuel Macron und Olaf Scholz

Der Bundeskanzler und der Staatspräsident holen auch den im Herbst abgesagten deutsch-französischen Ministerrat nach.


(Foto: IMAGO/Belga)

Beim Wasserstoff gibt es ebenfalls vielversprechende Industriekooperationen, beispielsweise zwischen dem französischen Unternehmen Air Liquide und Siemens Energy. Berlin und Paris müssen die künftige Wasserstoffinfrastruktur in beiden Ländern von Anfang an als einheitliches Netz denken. So sollte mit Blick auf den geplanten Bau einer Pipeline von Spanien durch das Mittelmeer nach Frankreich schon jetzt ein Plan entwickelt werden, wie die Leitung nach Deutschland weitergeführt werden kann.

Investitionen sind auch in grenzüberschreitende Stromtrassen und Gasleitungen erforderlich. Die deutsch-französische Vereinbarung vor dem Winter, sich in der Energiekrise gegenseitig mit Strom und Gas auszuhelfen, kann erst der Anfang gewesen sein. Die Energieflüsse in Europa kehren sich tendenziell um, sie führen in Zukunft stärker von West nach Ost.

5. Die Gefahr einer schleichenden Entfremdung auch im Kulturellen bannen

Die deutsch-französischen Beziehungen sind nicht nur eine offizielle Angelegenheit der beiden Regierungen. Sie leben davon, dass sie von den Bevölkerungen mitgetragen werden. Zwar genießt die Partnerschaft in beiden Ländern grundsätzlichen Rückhalt. Das zeigen immer wieder Umfragen wie diese kurz vor dem Élysée-Jubiläum veröffentlichte repräsentative Erhebung von Ipsos: Acht von zehn Franzosen und Deutschen sind demnach der Meinung, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit wichtig für die Zukunft der Europäischen Union ist.

Dennoch ist seit einiger Zeit eine Entfremdung zu spüren, das gegenseitige Interesse scheint nachgelassen zu haben. Die Zahl der jungen Franzosen und Deutschen, die in der Schule die Sprache des anderen Landes lernen, geht zurück. So lernten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nur gut 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler Französisch als Fremdsprache, vor zehn Jahren waren es noch rund 19 Prozent. Die Zahlen beim Deutschunterricht in Frankreich bewegen sich auf einem ähnlichen Niveau.

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Bei den französischen Präsidentschaftswahlen im April 2022 schnitten Kandidaten mit einer europakritischen und bisweilen antideutschen Haltung so stark ab wie nie. Im ersten Wahlgang holten sie rund die Hälfte der Stimmen. In der Stichwahl gegen Macron erreichte dann die Rechtsnationalistin Marine Le Pen das bisher beste Ergebnis ihrer Partei. In Deutschland wiederum stößt diese Entwicklung weitgehend auf Desinteresse – es ist ja seit Charles de Gaulle und Konrad Adenauer auch immer gut gegangen mit den deutsch-französischen Beziehungen. Selbstverständlich sind sie aber nicht.

Sprachförderung, Jugendaustausche, gemeinsame Kulturprogramme und das Engagement der Zivilgesellschaft in Städtepartnerschaften sind sehr wichtig. Sie erreichen aber nur eine Minderheit. Am Ende erfährt die Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich ihre Legitimation vor allem dadurch, dass die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder für die Menschen einen Mehrwert bringt. Auch darum ist ein neuer Elan bei deutsch-französischen Projekten so wichtig.

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